An der Martinschule in Greifswald ist vieles anders. Schüler lernen
in Stammgruppen, Inklusion wird seit Jahren gelebt. Der Abiturschnitt
liegt über dem des Landes. Das Schulzentrum ist mit 14 weiteren
Schulen für den Deutschen Schulpreis nominiert. Jetzt fällt die
Entscheidung.
Greifswald (dpa) – Der Greifswalder Stadtteil Schönwalde 1 ist ein
typisches DDR-Plattengebiet, die meisten Häuser sind inzwischen
saniert, dennoch sind die Mieten vergleichsweise gering. Schönwalde 1
ist kein sozialer Brennpunkt, aber auch kein Stadtteil der Reichen.
Inmitten des Viertels liegt das Evangelische Schulzentrum
Martinschule. In der freien Schule lernen körperlich und geistig
behinderte Kinder mit Durchschnittsschülern und Hochbegabten. Auf dem
Schulflur grüßen die Schüler die Lehrer und umgekehrt, an den Türen
der Unterrichtsräume hängen Fotocollagen der Klassen, die ab der 5.
Jahrgangsstufe «Stammgruppen» heißen. Auf einer Fotocollage steht:
«Die Welt ist voller Wunder und wir sind 11 davon.»
Während sich viele staatliche Schulen mühevoll an das Thema Inklusion
herantasten, wird der Begriff hier seit 16 Jahren gelebt. 1992 wurde
die Einrichtung als Schule für geistig behinderte Kinder gegründet.
Seit 2002 besteht die Grundschule. 2006 wurde die Integrierte
Gesamtschule gegründet. Sie führt inzwischen Schüler bis zum Abitur.
Als freie Schule erhebt das Schulzentrum Schulgeld und das in dieser
Gegend, wo viele Familien von Hartz IV leben.
Schulleiter Benjamin Skladny erinnert sich an die Vorurteile, die ihm
damals entgegenschlugen: «Da gründet ihr hier eine Schule, zu der die
Reichen ihre Kinder mit fetten Autos kutschieren.» Heute schmunzelt
der 56-Jährige darüber. Inzwischen gingen viele Kinder aus dem
Viertel in die Schule. Es gebe Eltern, die sparten das Schulgeld
zusammen. Manchmal legen Oma und Opa etwas dazu. Wessen Eltern nicht
mehr zahlen können, fliege nicht von der Schule. In der Grundschule
zahlen Eltern 95 Euro, in der Gesamtschule 170 Euro pro Monat. Für
Geschwisterkinder gelten Rabatte.
Vieles ist zunächst verwirrend anders: Die ersten und zweiten Klassen
lernen in Schulwohnungen, der Schultag beginnt hier mit sanftem
Glockengeläut statt einer schrillen Klingel. Ab der dritten Klasse
beginnen die Kinder mit der Selbstplanung ihrer Schulwoche. «Die
Lehrer achten darauf, dass sich Kinder frühzeitig ihren eigenen
Lernweg suchen», sagt Grundschulkoordinatorin Liane Massow. Jeder
Schultag beginnt mit einem Morgen- und endet mit einem
Abschlusskreis, in dem die Kinder ihre Tagesziele formulieren und zum
Abschluss bilanzieren. Auf der Homepage der Martinschule heißt es,
man sei eine «Schule, in der alle Kinder und Jugendlichen willkommen
sind, Mädchen und Jungen mit Begabungen aller Art, mit Handicap und
Kinder aus verschiedenen Kulturen, mit und ohne Religionen». Der
Abiturdurchschnitt an der Martinschule liegt mit 2,1 über dem
Landesdurchschnitt von Mecklenburg-Vorpommern mit 2,3.
Wie kann das sein? Ein Grund mag der bessere Personalschlüssel an
einer Schule mit Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf sein.
An der Martinschule haben 45 Prozent der 553 Kinder diesen Bedarf.
Für sie gelten höhere Schulkostensätze, die die Schule in Personal
investiert.
In Klasse 1a sitzen 13 Kinder mit Klassenlehrerin Anne Daedelow, zwei
Integrationshelfern und einer Pädagogischen Unterrichtshilfe auf dem
Teppich. In der Mitte steht eine Kerze. Die Kinder singen: «Ich kann
mich freuen, denn ich bin nicht allein.» Melinda ist eine von drei
geistig behinderten Kindern. Sie sitzt in den Armen von Daniela
Schubert, ihrer Integrationshelferin. «Melinda profitiert in dieser
Klasse so stark von ihren Mitschülern», sagt Schubert. Sie habe
gelernt, erste Wörter zu sprechen, könne sich für mehrere Minuten
konzentrieren. Melindas Schulziel wird es sein, später möglichst ein
selbstständiges Leben zu führen.
Ihr Klassenkamerad Mika strebt schon jetzt nach Höherem: Aus einem
Blumenkreis mit Fotos und Namensbezeichnungen sucht er die passenden
Frühblüher heraus. Möglich werde die Förderung der individuellen
Begabungen durch die Erstellung von Lernplänen, die dem jeweiligen
Niveau der Kinder angepasst seien, sagt Daedelow.
Schulleiter Skladny verschweigt nicht, dass Inklusion für die Lehrer
in den höheren Klassen zur Herausforderung werden kann, wenn die
Schere der individuellen Lernniveaus auseinandergeht. Die
Klassenverbandsstrukturen sind ab der 5. Klasse aufgelöst. Nach dem
Morgenkreis suchen sich die Schüler ihre Lerngruppen innerhalb der
Jahrgangsstufe. Für alle gilt der gleiche Stundenplan, doch wird in
den Gruppen verschieden gelernt: mal schneller, mal praktischer. Die
Abiturstufe sei frontaler als die unteren Klassenstufen, sagt
Skladny. «Noch!» Ansatz der Lehrer sei, Menschen zu unterrichten und
keine Fächer.
Ob es an der Martinschule besser ist als woanders? «Es ist bei uns
grundsätzlich anders als das gesamte Schulsystem in Deutschland, das
ich für fast unreformierbar halte», antwortet Skladny. Ausgehend von
einer Behindertenschule seien an der Martinschule alle daran gewöhnt
gewesen, im Team zu arbeiten. «Inklusion kann gelingen, sie muss aber
aus den Schulen wachsen und kann nicht von oben verordnet werden.»