SDS-newsline Onlinezeitung

Was ist Gerechtigkeit? – Anatomie eines Wahlkampfbegriffs

| Keine Kommentare

Es ist eine zentrale Frage im Duell ums Kanzleramt: Wie gerecht geht
es in Deutschland zu? Auch Ökonomen streiten über die passenden
Rezepte, um Ungleichheit zu verringern. Das Thema polarisiert.

Berlin (dpa) – Mehr Millionäre, aber auch viele Langzeitarbeitslose,
Mini-Jobber, befristet Beschäftigte: Das Reizthema Gerechtigkeit hat
im Wahlkampf eine wichtige Rolle gespielt. SPD-Chef Martin Schulz
steuerte nach anfänglicher Kritik an dem Schwerpunkt etwas um – doch
es wird weiter darüber diskutiert, was eine faire Gesellschaft mit
Chancen für alle ausmacht. Dabei gibt es verschiedene Vorschläge, wie
man das Ziel erreicht. Gerechtigkeit ist nicht gleich Gerechtigkeit.

Ein umstrittener Begriff – und das Dilemma der Politik

«Aus liberaler Sicht wird vor allem das Marktergebnis als gerecht
angesehen. Ich halte das für eher problematisch», sagt Gustav Horn.
Der Chef des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung der
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung meint: Gerechte Politik sei
mehr als nur Rahmenbedingungen setzen, wie das etwa viele in Union
und FDP sehen. «Wir wissen, dass der Markt auch ungerechte Ergebnisse
bringen kann. Menschen können aus reinem Pech scheitern.»

Inwieweit soll also der Staat in Wirtschaftsprozesse eingreifen, auch
um die Schere zwischen Arm und Reich zu schließen? Judith Niehues vom
Institut der deutschen Wirtschaft erklärt, dass scheinbar einfache
Rezepte oft nicht eindeutig sind. Denn es gibt Situationen, in denen
bloße Gleichheit auch den Benachteiligten schaden kann. Fördert man
dagegen gezielt Talente oder Gründer, können am Ende manchmal alle
mehr profitieren, wenn später neue Jobs für mehr Menschen entstehen.

Was hat Ungleichheit mit Einkommen und Wirtschaftskraft zu tun?

Im Umkehrschluss bedeute das: «Wenn die Gleichheit größer wird, muss
das nicht automatisch heißen, dass auch die Gerechtigkeit zunimmt»,
sagt Niehues. Experten der Deutschen Bank betonten schon Ende 2016:
«Die globale Einkommensungleichheit ist über die letzten Jahrzehnte
gestiegen.» Gleichzeitig hätten Globalisierung und neue Technologien
jedoch «unbestreitbar positiven Einfluss auf das Gesamteinkommen».

Im Wahlkampf wurde «Gerechtigkeit» teils kritisch gesehen, weil es
vielen Deutschen gut geht. Aber es gibt auch Armut, und manche
Beobachter sprechen sich für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus.
Hängen Verteilung und Wirtschaftsleistung zusammen? «Es muss keinen
Widerspruch zwischen gerechter Verteilung und effizientem Wachstum
geben», so Horn – man müsse aber schauen, um wessen Wachstum es geht.

Nachteile für Arbeitnehmer, Vorteile für Kapitalbesitzer

Vor allem Linke und SPD bemängeln, dass Lohnzuwächse häufig hinter
Kapitalrenditen und Firmengewinnen zurückbleiben. Das werde noch
deutlicher, wenn man das Preisniveau einbeziehe, sagt Horn: «Die
Reallöhne sind für viele Menschen gefallen, andererseits ballen sich
große Reichtümer zusammen. Das schafft Verdruss, der sich politisch
niederschlägt, etwa in einer geringeren Wahlbeteiligung und größerem
Rekrutierungspotenzial für radikale Kräfte.» Bei dem, was brutto auf
dem Gehaltszettel steht, wurden die Unterschiede laut Commerzbank
immerhin geringer. Dies zeigt der Gini-Index, ein Verteilungsmaß.

Gerechte Chancen contra gerechte (Um-)Verteilung

Besonders in Arbeit und Bildung zeigen sich abweichende Auffassungen.
«Man muss unterscheiden zwischen Chancengerechtigkeit – der Idee,
dass alle gleiche Startchancen haben – und Verteilungsgerechtigkeit,
die einen Schritt weiter geht», erläutert Niehues. Worin sich aber
nahezu alle einig seien: dass mehr «Mobilität für den Aufstieg» nötig
sei. Denn Erfolg hänge in Deutschland noch stark vom Elternhaus ab.

Vorschläge für Arbeitsmarkt und Steuern

Den Slogan «Zeit für mehr Gerechtigkeit» wollen die Sozialdemokraten
mit Punkten wie gleichem Lohn für Leiharbeit und dem Arbeitslosengeld
Q – längerer Unterstützung bei weiterer Qualifizierung – verknüpfen.
«Das Arbeitslosengeld Q ist ein gutes Beispiel für Wechselwirkungen
von Effizienz und Gerechtigkeit: Es erscheint vielen gerecht, geht
aber mit sehr problematischen Anreizwirkungen einher», meint Niehues.

Jedoch: «Wenn zusätzliches Einkommen durch außerordentliche Leistung
gerechtfertigt ist, wird das akzeptiert.» Beim Thema Managergehälter
sei das schwieriger. Bei ihren Plänen für Spitzensteuersätze erst ab
höheren Einkommen seien beide große Parteien nicht weit auseinander.
Dagegen dürften «Vorschläge für eine Superreichen-Steuer kein großes
Aufkommen erzielen, sondern eher einen symbolischen Effekt haben».

Bildung und Gerechtigkeit

Zum anderen ist Bildung ein Schlüssel für Gleichheit in den Chancen.
Eine Abschaffung von Kita-, Schul- und Studiengebühren will etwa die
Linke durchgängig durchsetzen. Für Horn steht jedenfalls fest:
«Bildung hat eine enorme Integrationsfunktion. Deshalb halte ich
nichts davon, über ein Gutscheinsystem, wie es die FDP vorschlägt,
das Bildungssystem stärker zu einem Wettbewerbssystem zu machen.»

Die schwierige Sache mit dem Vermögen

Und müssten Reiche nicht mehr zur Staatsfinanzierung beitragen? Auch
hier kommt es auf die Perspektive an. Niehues gibt zu bedenken: Würde
man Familienfirmen mit hohem Betriebsvermögen in Aktiengesellschaften
umwandeln, hätte man zwar weniger Vermögensungleichheit. «Aber viele
Arbeitnehmer, die in Familienbetrieben beschäftigt sind, wären sicher
froh, weiter in dieser Unternehmensform arbeiten zu können.»

Eine Vermögensteuer würde die Ungleichverteilung der Besitzstände
zudem praktisch nicht verändern – das zeigten Simulationen. Kollege
Andreas Peichl vom Münchner Ifo-Institut warnte allerdings jüngst:
«Deutschland geht es sehr gut. Aber vor allem durch die zunehmende
Vermögensungleichheit steht es für die Zukunft vor Problemen.»

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.