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Schwarz und ein bisschen Rokoko

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Sie sind meist schwarz gekleidet und bleich geschminkt. Sie mögen
Friedhöfe und düstere Musik. Und ein Mal im Jahr kommen die
Wave-Gotik-Fans in Leipzig voll auf ihre Kosten. Es ist aber längst
nicht mehr nur eine düstere Atmosphäre.

Leipzig (dpa) – Wer zu Pfingsten durch die Leipziger Innenstadt geht,
kommt sich vor wie auf einer Zeitreise. Dort trifft der Adel in
opulenten Barock-Kostümen, mit Lockenperücke und weiß gepuderten
Gesichtern auf den Gothic-Klassiker mit Undercut, irritierend weißen
Kontaktlinsen und schwarzer Kleidung. Mehr als 20 000 Anhänger der
Gothic-Szene verwandeln die Messestadt zum 27. Wave-Gotik-Treffen
(WGT) bis Montag in einen eigenen Kosmos – mit Fans der «schwarzen
Szene», Kostüm-Freaks, Dunkelhippies, Vampirfans und dazwischen ein
bisschen Rokoko.

Längst ist es beim WGT nicht mehr düster, unheimlich und
ausschließlich schwarz wie zu Beginn Anfang der 1990er Jahre. Die
Strömungen sind vielfältig: Neben der «schwarzen Szene» und den
Barockfans wirken die Steampunks wie aus der Zeit gefallene
Menschmaschinen, der Cybergoth trägt dagegen viel Lack, hautenge
Kleidung und Perücken mit Plastik-Schläuchen in Signalfarben.
Dazwischen tummeln sich Besucher mit Pferdemasken, Gasmasken,
Monstermasken oder Fantasieuniformen. Und hier und da blitzen, als
gewollter Kontrast, Frauen in weißen Kleidern, Flügeln und blutrotem
Mund auf.

Der Auftakt des 27. Treffens am Freitagnachmittag gehört aber
eindeutig der Barockfraktion. Tausende Anhänger tummeln sich in einem
Park zum «Viktorianischen Picknick». Überall stehen gedeckte Tische
mit verschnörkeltem Geschirr – mitunter ziert ein Totenschädel die
Runde. «Es ist eine ungezwungene friedliche Atmosphäre und wir leben
gerne das 17. Jahrhundert vor», sagt Mark Möbes aus Leipzig, der mit
Beinkleidern und Perücke wirkt, als wäre er dem französischen Adel
entsprungen. «Wir sind hier, um uns und eine wunderschöne Epoche zu
präsentieren.»

Das mag dem wahren Gothicfan nicht immer gefallen, der stets betont,
dass er sich nicht verkleidet, sondern eine Lebensform daraus gemacht
hat. Manchmal werden diejenigen spöttisch beäugt, die sich für das
WGT verkleiden.

Mary Draisine ist aus dem nordrhein-westfälischen Herten erstmals
angereist und bezeichnet sich als «Gothic». Die 49-Jährige lebt den
Stil auch im Alltag und findet gerade die vielen Strömungen beim
«Viktorianischen Picknick» so interessant. «In erster Linie sollten
wir doch tolerant sein.» Sie schiebt ihren auf alt getrimmten
Kinderwagen über den Rasen. Das Innenleben ist sehr morbide und für
manchen auch verstörend: Eine Kinderpuppe sitzt dort mit gespaltenem
Schädel, das Hirn freigelegt und schaut auf das Treiben der Mäuse,
die die Kinderstube durchstöbern.

«Die Unterschiede der Subkulturen innerhalb der Szene sind sehr
wichtig», sagt der Kultursoziologe Thomas Schmidt-Lux von der
Universität Leipzig. Gothic sei ein Lebensstil, der das ganze Jahr
über mit der Musik und der Kleidung gelebt werde. Es wird viel Geld
in die Kleidung, Schminke und ungewöhnliche Accessoires investiert.
«Aber es gibt sicherlich Menschen, die sich zu dem Wave-Gotik-Treffen
besonders in Schale werfen. Das Festival ist auch ein kleiner
Laufsteg.»

Da es aber Hunderte Veranstaltungen an mehr als 40 Orten gibt, kommt
die «schwarze Szene» nicht zu kurz. Einige von ihnen dürfen nachts
über den Südfriedhof streifen. Eine Kunsthistorikerin erzählt den
Szenefans von Totenkronen, Wiedergängern und der Angst vor dem
Scheintod. Es gibt schaurige Geschichten über Leichenwache,
Leichenraub und Leichenfett sowie Sagengeschichten rund um die
Mysterien des Todes. An einem Abend können die Besucher sogar
versuchen, Fledermäuse mit speziellen Ortungsgeräten aufzuspüren.

Beim WGT tauchen auch immer wieder kleinere Gruppen in Uniformen auf,
die denen der Wehrmacht sehr ähneln. «Ein kleinerer Teil der Szene
hat schon eine gewisse Affinität zur rechten Szene. Auch einige Bands
stehen immer wieder unter Naziverdacht», erläutert Kultursoziologe
Schmidt-Lux.

«Das sind Uniformen aus dem 1. Weltkrieg. Wir sind nicht rechts,
haben nur einen Uniformfetisch», wehren sich zwei Männer aus Hessen
gegen den Vorwurf. An einer Kette führen sie eine Frau in rotem
Lackmieder, Mundschutz und Flügeln über die Picknickwiese. «Das ist
Amelia von Schwefel, unser Höllendrache.» So ist das
Wave-Gotik-Treffen in Leipzig: Auffallen und gerne auch mal
provokant. Aber bisher immer friedlich.

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