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Massenphänomen Analphabetismus: Kampf gegen die «erschreckende Zahl» Von Werner Herpell und Kim Alexander Zickenheiner, dpa

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Mehrere Millionen Analphabeten in Deutschland – für die von Kanzlerin
Merkel ausgerufene «Bildungsrepublik» ist das ein Armutszeugnis. Das
komplexe Problem hat viele Facetten, die alle irgendwie angegangen
werden müssen.

Berlin (dpa) – Rund 7,5 Millionen Menschen können hierzulande nicht
richtig schreiben und lesen. Als «funktionale Analphabeten» kommen
sie mit Buchstaben, Wörtern und einfachen Sätzen nur sehr begrenzt
zurecht, haben Mühe, zusammenhängende Texte zu lesen und zu
verstehen. Analphabetismus im engeren Sinne betrifft nach einer
Studie 2,3 Millionen Erwerbsfähige. Sie können nur einzelne Wörter
lesen und schreiben, nicht aber ganze Sätze. Etwa 300 000 Mitbürger
können nicht mal ihren Namen korrekt schreiben. Bund und Länder
wollen diesen Menschen in einer «Dekade für Alphabetisierung» helfen.

Was soll in den nächsten Jahren für die Betroffenen getan werden?

Weil «funktionale» und erst recht «echte» Analphabeten es nicht nur
in ihrem privaten Alltag schwer haben, sondern auch im Beruf, besteht
in einer Wissensgesellschaft Handlungsdruck – niemand kann und soll
zurückgelassen werden. Dafür rufen die bildungspolitischen
Spitzenleute der Republik die «Dekade der Alphabetisierung» aus.
Bildungsministerin Johanna Wanka (CDU) und die Präsidentin der
Kultusministerkonferenz, Claudia Bogedan (SPD), wollen sich für
bessere Vernetzung, bessere Forschung und bessere Methoden einsetzen
– und für bessere Förderung: Allein der Bund will in der Dekade 180
Millionen Euro investieren. «Ein Erfolg wird nur möglich sein, wenn
wir gemeinsam agieren und an einem Strang ziehen», sagt Bogedan.

Woher stammt die enorm hohe Zahl von 7,5 Millionen «funktionalen
Analphabeten»?

Aus der als seriös geltenden «leo.-Level-One-Studie» der Uni Hamburg
von 2011. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass es bundesweit wohl
doppelt so viele Menschen mit erheblichen Lese- und Schreibproblemen
gibt wie zuvor angenommen – eine erschreckende Zahl, sagt Wanka.
Obwohl meistens zur Schule gegangen, kann jeder siebte Erwachsene bis
64 Jahre wegen stark begrenzter Lese- und Schreibfähigkeiten nur
eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Knapp 60
Prozent von ihnen sind erwerbstätig. Der größte Anteil findet sich
unter Hilfskräften in Bau, Gastronomie und Büros, Transport- und
Frachtarbeitern sowie Hausmeistern. Eine Nachfolgestudie soll die
weitere Entwicklung bis 2018 beleuchten.

Wie kommt es, dass Menschen trotz Schulbildung betroffen sind?

Kinderbuchautor Tim-Thilo Fellmer («Fuffi der Wusel») engagiert sich
als ehemaliger Betroffener seit Jahren. Nach seiner Einschätzung gibt
es dafür viele Gründe. Meist liege es an äußeren Umständen – «prekäre
häusliche Verhältnisse, ein bildungsfernes Elternhaus, auch Probleme
mit dem Schulsystem, der Methodik, dem Lehrer». Schreib- und
Leseschwächen würden «im Schulsystem durchaus erkannt», meint der
Schriftsteller. «Aber man wird als Betroffener irgendwann nur noch
weitergereicht. Es handelt sich um eine Überforderung auf beiden
Seiten – auch bei den Lehrern, die oft in einer schwierigen Situation
sind mit dem Unterricht vor zu großen Klassenverbänden.» Doch
Ursachen und Entwicklung von Analphabetismus sind noch nicht
gründlich genug erforscht, wie Bogedan betont.

Ein Kinderbuchautor als Aushängeschild der Alphabetisierungskampagne
– was empfiehlt er Politikern und Betroffenen?

Tim-Thilo Fellmer hofft auf «mehr Dynamik für das Thema». Er verweist
auf inzwischen elf Selbsthilfegruppen für Alphabetisierung in
Deutschland. «Da würde ich mir wünschen, dass es von Politik und
Wirtschaft noch mehr Unterstützung gibt. Wir wären bei diesem Thema
noch lange nicht so weit, wenn es nicht so viele mutige, engagierte
ehemalige Betroffene gäbe.» Ein Schlüssel für frühe Kontakte zum
gelesenen und geschriebenen Wort sei das Vorlesen. «Ich erlebe es ja
selbst immer wieder, wenn ich in einer Schulaula vor hunderten
Kindern lese», sagt der 48-jährige Autor. «Die kann man eine bis
eineinhalb Stunden lang ohne Probleme an einen Text fesseln.

Aber wie erreicht man die erwachsenen Betroffenen?

Bei einem solchen Tabu wollen viele ihr Problem geheim halten. Und:
Niemand kann einen Erwachsenen zwingen, sich weiterzubilden. Es
braucht also Fingerspitzengefühl. Die Alphabetisierung soll nach dem
Willen der Politik in der Öffentlichkeit zu einem Top-Bildungsthema
werden. Vereine, Verbände und vor allem Arbeitgeber sollen gezielt
auf Menschen zugehen. Überhaupt: Bildungsangebote werden besser
angenommen, wenn sie einen konkreten Nutzen im Alltag haben, wie
Wanka sagt – daher sollen mehr Kursinhalte speziell auf Jobs
zugeschnitten werden oder Alltagsthemen wie Geld, Gesundheit und
Ernährung angehen. Mit Apps, digitalen Kursen und Online-Material
soll die Schwelle niedrig gehalten werden. Es gibt viele
Ansatzpunkte: «Eng und beharrlich» wollen die Akteure daher
zusammenarbeiten.

Hat der bisherige «Welttag der Alphabetisierung» denn nichts bewirkt?

Es ist wie bei so vielen «Welttagen» und Gedenktagen – konkrete Hilfe
ist damit noch nicht verbunden. Jahr für Jahr am 8. September
erinnert die UN-Kulturinstitution Unesco an ein globales Problem:
Lesen und Schreiben zu erlernen sei in vielen Regionen der Welt
«immer noch ein Privileg». Der Unesco-Weltbildungsbericht 2015 zeigt:
Etwa 781 Millionen Menschen weltweit sind Analphabeten, fast zwei
Drittel davon Frauen. Der größte Anteil der Analphabeten (557
Millionen) verteilt sich auf nur zehn Länder. Allein in Indien leben
37 Prozent der weltweiten Analphabeten.

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