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„Ach, sind sie gehörlos?“ Julia Probst zum Tag der Gehörlosen Interview: Anna Kristina Bückmann

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80 000 Menschen in Deutschland sind gehörlos. Auf sie macht der Tag
der Gehörlosen am Sonntag aufmerksam. Für ihre Belange setzt sich
Lippenleserin Julia Probst ein.

Berlin (dpa) – Julia Probst wurde bei der WM 2014 bekannt, weil die
Lippenlesen auf Twitter verriet, was Joachim Löw der Nationalelf
zurief. Im Interview erzählt die 34-Jährige, was die Politik für
Gehörlose tun kann, über welche Vorurteile sie sich ärgert und welche
sie zum Lachen bringen.

Frage: Frau Probst, über welche Vorurteile gegenüber Gehörlosen
ärgern Sie sich?

Antwort: Ich ärgere mich immer wieder, wenn Leute sich wundern: «Ach,
Sie sind gehörlos? Wieso können Sie dann sprechen?» Die allermeisten
Gehörlosen können sprechen, die meisten wollen es aber nicht, weil
sie ihre eigene Stimme nicht mögen und zudem die Gebärdensprache als
Muttersprache haben. Aber am meisten tut mir das Vorurteil weh, dass
Gehörlose zurückgeblieben seien. Das ist nicht der Fall, denn
Gehörlosen wird durch die schlechte Schulpolitik der Zugang zum
normalen Erwerb von Bildung entzogen.

Frage: Können Sie auch über gewisse Vorurteile lachen?

Antwort: Am meisten kann ich darüber lachen, wenn man mich fragt:
«Gehst du überhaupt auf Konzerte?» Klar tue ich das, warum auch
nicht? Die von meiner Lieblingsband kennen das schon, wenn ich ganz
vorne stehe in der Nähe des Basses. Oder wenn man mich fragt, ob ich
überhaupt tanzen kann. Klar kann ich das. Mir sagte mal ein Mann, ich
wäre die beste Tanzpartnerin, die er je hatte – ich ließe mich so
schön führen und schaffe es, irgendwie im Takt zu bleiben, was er
sich nicht erklären könne.

Frage: Wenn Sie Bundeskanzlerin wären: Wo sehen Sie Handlungsbedarf,
um die Lage von gehörlosen Menschen zu verbessern?

Antwort: Es sollte jede Nachrichtensendung, egal auf welchem
Programm, mit Gebärdensprache sein. Ich fände es gut, wenn alles eins
zu eins im Fernsehen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern
untertitelt wird. Außerdem sollte jede Debatte im Bundestag
barrierefrei mit Gebärdensprache und Untertitel gesendet werden.
Bisher wird nur die Kerndebattenzeit barrierefrei gesendet. Alles
andere nicht. Das ist so, als würde man Hörenden einfach während
einer Sitzung den Ton ausdrehen.

Frage: Berücksichtigt das derzeit diskutierte Bundesteilhabegesetz
die Rechte von Gehörlosen ausreichend?

Antwort: Das Gesetz ist kein Quantensprung. Es ist ein Spargesetz,
weil es die Rechte von Menschen mit Behinderung massiv einschränkt
statt sie im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention vollumfänglich
zu gewährleisten. Die 5/9-Punkte-Regelung sagt, dass man fünf von
neun Kritikpunkten erfüllen muss, um Leistungen zu kriegen. Aber wir
Gehörlosen sind eigentlich nur in einem Punkt betroffen:
Kommunikation. Wir brauchen Gebärdensprachdolmetscher oder
Kommunikationsassistenten. Nach dem Gesetz haben wir bei besonderen
Anlässen einen Anspruch darauf. Letztendlich entscheidet ein
Sachbearbeiter darüber, was ein besonderer Anlass ist.

Frage: Welche Bedeutung hat der Tag der Gehörlosen für Sie
persönlich?

Antwort: Er soll Bewusstsein schaffen, aber so richtig hat er noch
nicht gezündet. Ich habe noch nie einen Hörenden sagen hören: «Hey,
heute ist der Tag der Gehörlosen!» Ich vermisse eine Aktion der
Fernsehsender oder der Öffentlichkeit zum Tag der Gehörlosen – zum
Beispiel alle Nachrichtensendungen bei den Hauptsendern mit
Gebärdensprache und Untertitel.

Frage: Was machen Sie am Sonntag?

Antwort: Erfreulicherweise fällt der Tatort Münster dieses Jahr mit
dem Tag der Gehörlosen zusammen, also werde ich am Abend ganz sicher
auf meinem Sofa sitzen und allen sagen: «Ich bin von 20.15 Uhr bis
21.45 Uhr nicht ansprechbar.» Aber das wissen vermutlich inzwischen
alle, was für ein Tatort-Junkie ich bin.

Zur Person: Julia Probst, 34, lebt in Hamburg. Seit Juni 2016
arbeitet sie als Referentin des Vorstands vom Gehörlosenverband
Hamburg. Bis Juni 2014 war sie Mitglied der Piraten-Partei. Probst
setzt sich im Netz für die Rechte von gehörlosen Menschen ein.

 

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