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Top-Chancen und Tristesse: Berufsbildung mit «Passungsproblemen»

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Eine solide Ausbildung in Betrieb und Berufsschule – selbst Donald
Trump findet das deutsche Erfolgsmodell gut. Im eigenen Land müssen
Bund, Länder, Wirtschaft und Schulen noch Überzeugungsarbeit fürs
duale System leisten. Nicht alles läuft rund in der Berufsbildung.

Berlin (dpa) – Rein rechnerisch ist alles ziemlich prima auf dem
Lehrstellenmarkt: 100 Schulabgänger, die nach einem Ausbildungsplatz
suchen, können aus 104 Angeboten wählen – da sollte eigentlich jeder
Bewerber unterkommen. «Top-Chancen auf Ausbildung», jubelt die
Bundesregierung und hat damit nicht unrecht. Doch so einfach läuft es
eben nicht für alle Jugendlichen, die im dualen System den Start ins
Berufsleben hinbekommen wollen. Es gibt «Passungsprobleme», wie der
am Mittwoch vom Kabinett verabschiedete Berufsbildungsbericht zeigt.

STAGNATION NACH ABSTURZ: Die Gesamtzahl der neu abgeschlossenen
Ausbildungsverträge ist weitgehend konstant – sie sank 2016 nur
leicht, von gut 522 000 auf 520 300 (minus 0,4 Prozent). Allerdings
wurden fünf Jahre davor noch mehr als 569 000 Lehrstellen besiegelt.
Allein zwischen 2012 und 2013 gingen 22 000 Vertragsabschlüsse
verloren. Eine Erklärung: die demografische Entwicklung mit weniger
Jugendlichen in Deutschland, aber auch der Trend zum Studium. Zum
Vergleich: Im Wintersemester 2016 starteten fast 508 000 Menschen in
ihr erstes Hochschulsemester.

«PASSUNGSPROBLEME» BLEIBEN: Die Schere zwischen unbesetzten
Lehrstellen und unversorgten Bewerbern ist «weiterhin eine zentrale
Herausforderung», konstatiert der Regierungsbericht. Es «passt»
beispielsweise nicht, wenn Jugendliche mit ihren Abschlüssen nicht
den Ansprüchen der Firmen genügen oder wenn sie nicht mobil genug
sind. Zum Stichtag 30. September 2016 wuchs die Zahl nicht vergebener
Ausbildungsplätze im Vorjahresvergleich um 4,5 Prozent auf 43 500.
Zugleich gingen aber 20 600 Jugendliche leer aus (minus 1,1 Prozent).

MEHR ABITURIENTEN IN AUSBILDUNG: Die Quote der Azubis mit
Studienberechtigung ist seit 2009 von gut 20 auf zuletzt knapp 28
Prozent geklettert. 2016 gab es im dualen System also erstmals mehr
Studienberechtigte als junge Menschen mit Hauptschulabschluss (26,7
Prozent), hebt der DGB hervor. Dass Abiturienten die betriebliche
Lehre meiden und lieber an die Uni gehen, ist nicht mehr in Stein
gemeißelt. Die Kehrseite: Jugendliche mit hohem Schulabschluss nehmen
vor allem Hauptschülern Ausbildungsplätze weg.

NUR JEDER FÜNFTE BETRIEB BILDET AUS: Laut Berufsbildungsbericht ein
Minusrekord. Die «Ausbildungsbetriebsquote» sank erneut, nach den
bisher aktuellsten Zahlen für 2015 von 20,3 auf 20,0 Prozent. Der
«Bestandsverlust» sei auf Kleinstbetriebe mit weniger als zehn
Beschäftigten und Start-ups zurückzuführen. Allerdings ist derzeit
nur gut die Hälfte der Betriebe tatsächlich ausbildungsberechtigt.
Das Bundesbildungsministerium will kleine Betriebe mit einem neuen
Schwerpunkt «Jobstarter plus» für mehr Ausbildung gewinnen.

ARBEITGEBER-FRUST: Nach Zahlen des Deutschen Industrie – und
Handelskammertages (DIHK) stieg die Zahl der Lehrstellenangebote bei
der Bundesagentur für Arbeit 2016 um 27 000 an – die Arbeitgeber
täten also einiges. Der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer
Achim Dercks weist darauf hin, dass immer mehr Firmen ihre
Ausbildungsplätze über Jahre nicht besetzen könnten und dann
«unfreiwillig aus der Statistik der Ausbildungsbetriebe» heraus
fielen – vor allem kleine Unternehmen in ländlichen Regionen.

OHNE ABSCHLUSS: Gut 1,2 Millionen Menschen zwischen 20 und 29 Jahren
haben in Deutschland keinerlei abgeschlossene Lehre und befinden sich
auch nicht in Schule oder Studium – 13 Prozent der Altersgruppe.
Bezogen auf die 20- bis 34-Jährigen ohne Berufsabschluss lag die
Quote sogar bei 13,4 Prozent – betroffen waren 1,95 Millionen junge
Leute. «Unter dem Strich bleiben pro Jahrgang mehr als 120 000
Jugendliche ohne Ausbildung», sagt die stellvertretende DGB-Chefin
Elke Hannack. Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) bedauert,
dass es hier nicht aufwärts geht – «aber daran arbeiten wir».

IN DER WARTESCHLEIFE: Nach Rückgängen im sogenannten Übergangsbereich
zwischen 2005 (gut 417 000) und 2014 (fast 253 000) gab es hier
zuletzt eine Trendumkehr. 2016 begannen fast 300 000 junge Menschen
(plus 12,2 Prozent) ein Programm, um sich überhaupt erst einmal für
einen Ausbildungsplatz fit zu machen. «Der Anstieg ist im
wesentlichen auf Integrationsmaßnahmen für junge Geflüchtete
zurückzuführen», heißt es im neuen Berufsbildungsbericht.

FLÜCHTLINGE MIT FRAGEZEICHEN: In Deutschland gibt es derzeit in der
ausbildungsrelevanten Gruppe der 15- bis 25-Jährigen 114 500
Flüchtlinge – ein Viertel der als arbeitsuchend gemeldeten jungen
Menschen. «Etwa 51 000 haben keinen Schulabschluss (…), was den
Einstieg in die berufliche Ausbildung für diese Personengruppe noch
weiter erschwert», heißt es im Report. Hinzu kommt, dass Geflüchtete
das duale System oft nicht kennen und daher auch nicht wertschätzen
können, bedauert Ministerin Wanka. Das solle sich ändern.

IMAGEWERBUNG GROSS GESCHRIEBEN: Praxisnähe, gute Übergänge von der
Lehre in den Job, die im EU-Vergleich geringe Jugendarbeitslosigkeit
– all das begründet Erfolg und internationales Ansehen des dualen
Systems, sagt Wanka. Sie will in dieser Legislaturperiode das
Prestige des deutschen Berufsbildungsmodells verbessern. Die Chefin
der Kultusministerkonferenz der Länder, Susanne Eisenmann, zieht da
gern mit: Die berufliche Bildung werde «außerhalb unserer Grenzen
wesentlich stärker wahrgenommen als in Deutschland selbst», sagt die
CDU-Politikerin. «Deshalb will ich wieder stärker für die
Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung werben.»

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