An Vergleichstests mangelt es nicht im deutschen Bildungswesen. Aber
vielleicht doch an Qualität? Mäßige Mathe-Ergebnisse der Grundschüler
zeigen, dass 15 Jahre nach dem PISA-Debakel noch viel zu tun ist.
Apropos PISA: Die sechste Studie könnte bald neue Sorgen auslösen.
Berlin (dpa) – Nach dem soliden Aufwärtstrend seit dem «PISA-Schock»
vor 15 Jahren ist das ein Dämpfer: Deutschlands Viertklässler
rutschen im Ranking der internationalen TIMSS-Studie in Mathematik
ab, in den Naturwissenschaften geht es auch nicht so recht voran. Und
alle Baustellen der deutschen Bildungspolitik bleiben: zu viele
«Risikoschüler», zu wenige Überflieger, erhebliche Probleme für
Migrantenkinder, eine allzu enge Koppelung von sozialer Herkunft und
Bildungserfolg. «TIMSS 2015» als schlechtes Omen? Vor der
PISA-Präsentation am 6. Dezember darf wieder gezittert werden.
TIMSS («Trends in International Mathematics and Science Study») gilt
– wie die bekanntere PISA-Studie der OECD – als sehr aussagekräftig.
Gut 300 000 Grundschüler aus über 50 Staaten und Regionen ließen sich
für «TIMSS 2015» testen, zudem gaben 250 000 Eltern, 20 000 Lehrer
und 10 000 Schulleiter Auskünfte. In Deutschland nahmen rund 4000
Viertklässler an 200 Schulen teil. Ergebnisse der Vergleichsstudie:
DEUTSCHE MATHE-MUFFEL: Mit diesem Unterrichtsfach tun sich die
Grundschüler sehr schwer. Während osteuropäische Länder wie Ungarn,
Tschechien oder Slowenien – ganz abgesehen von Russland als großer
Schachspieler-Nation – teils enorme Fortschritte machten, rutschte
Deutschland nun unter das Test-Level der EU und der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Fast jeder
vierte deutsche TIMSS-Teilnehmer schaffte nicht einmal die dritte von
fünf Kompetenzstufen. Diese Kinder würden «schnell den Anschluss
verlieren, wenn sie in die fünfte Klasse kommen», sagt Studienleiter
Prof. Wilfried Bos. Nur gut jeder Zwanzigste erreichte Top-Niveau.
NOTE DREI IN PHYSIK UND CHEMIE: In den Naturwissenschaften verharrten
die TIMSS-Leistungen der deutschen Viertklässler auf dem Niveau der
Vorgängerstudien – eine Stagnation im gehobenen Mittelmaß, haarscharf
über den Werten von EU und OECD. Aber auch hier zogen Länder wie
Slowenien oder Schweden innerhalb von acht Jahren vorbei. Zwar stieg
die Quote der Spitzenschüler leicht an, sie war aber gegenüber
Ländern wie Schweden oder Russland sehr niedrig. Die neue Studie sei
nun «kein Grund, in Sack und Asche zu gehen», sagt Bos. «Wir müssen
aber sehen, dass andere Länder es besser hingekriegt haben.»
SOZIALE SCHERE: Die seit «PISA 2000» beklagte enge Verknüpfung von
sozialem Hintergrund und Bildungschancen bleibt leider bestehen. Die
TIMSS-Experten hatten zur Erforschung nicht nur nach dem Berufs- oder
Ausbildungsstand der Eltern gefragt, sondern auch nach der Anzahl von
Büchern pro Haushalt. Das Ergebnis: ernüchternd. Schüler mit mehr als
100 Büchern daheim haben gut ein Lernjahr Leistungsvorsprung. In den
meisten EU-Ländern sind die Nachteile von Schülern aus bildungsfernen
Elternhäusern geringer. Das Fazit ist kein Ruhmesblatt: Die soziale
Kluft hat sich seit «TIMSS 2007» nicht signifikant verändert.
MALUS FÜR MIGRANTENKINDER: Auch dieser Befund tut weh: Obwohl sich
Grundschüler, von denen ein oder zwei Elternteile im Ausland geboren
wurden, im Test verbessern, haben sie in Deutschland weiterhin große
Rückstände. Der Leistungsvorsprung von Kindern mit hierzulande
geborenen Eltern betrug in Mathematik 31 Punkte – das entspricht fast
dem Lernerfolg eines Schuljahres. In den Naturwissenschaften gab es
sogar 47 Punkte Differenz. Die deutsche Schülerschaft war 2015
vielfältiger und damit komplizierter als bei früheren Tests. Auch
damit lasse sich das mäßige Gesamtergebnis wohl ein Stück weit
erklären, meint der Dortmunder TIMSS-Forscher Bos.
MÄDCHEN HOLEN AUF: In Mathematik und Naturwissenschaften ging der für
diese Fächer lange gewohnte Vorsprung von Jungen gegenüber Mädchen
zurück. Ob damit aber schon die von Kanzlerin Angela Merkel (CDU)
gern beschworene Begeisterung der Mädchen für die MINT-Fächer
ausbricht? Ganz so rosig ist es dann doch nicht. Die Angleichung lag
an den Jungen, die sich verschlechterten, während ihre
Mitschülerinnen die Leistungswerte hielten oder leicht verbesserten.
GLAS HALB VOLL: So sieht es zumindest die Kultusministerkonferenz
(KMK) der für Schulbildung in Deutschland zuständigen 16 Länder. «Die
Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland erreichen erneut
ihr Kompetenzniveau von 2007, das im internationalen Vergleich im
mittleren Bereich liegt. Dies gelingt trotz einer zunehmend
heterogenen Schülerschaft.» KMK-Präsidentin Claudia Bogedan tröstet
über durchwachsene Leistungen mit dem Hinweis auf ein gutes Lernklima
hinweg: «Den Unterricht in Mathematik und in den Naturwissenschaften
bewerten die Schülerinnen und Schüler positiv.» Bund und Länder
verweisen zudem eifrig auf neuen Pläne und Programme für das digitale
Klassenzimmer oder die Förderung leistungsstarker Schüler.
GLAS HALB LEER: Dem «TIMSS-Papst» Bos wird besonders bang, wenn er an
den Übergang lernschwacher Kinder auf die weiterführenden Schulen
denkt: «Mit Müh‘ und Not können sie die Grundrechenarten.» Falls das
so weitergehe, «muss man in Deutschland Angst haben, abgehängt zu
werden» bei künftigen Vergleichstests. Zu weniger Reformeifer gebe
TIMSS jedenfalls keinen Anlass. Auch die KMK räumt ein: «Die Studie
zeigt, dass wir sowohl am unteren als auch am oberen Ende des
Leistungsspektrums ansetzen müssen.» Schärfer formuliert es die
Bildungsgewerkschaft GEW: «Es fehlt an tragfähigen Konzepten,
Defizite von Kindern aus bildungsfernen Elternhäusern zu überwinden.»
UND JETZT PISA: Ob es beim OECD-Test 2015 für die 15-Jährigen ähnlich
mittelmäßige Leistungen gegeben hat, wird sich bei der Vorstellung
der Ergebnisse am 6. Dezember zeigen. PISA-Koordinator Andreas
Schleicher sagt: «Es gibt keinen Grund, warum Deutschland sich nicht
an den leistungsstärksten europäischen Bildungssystemen orientieren
sollte.» Aber auch er warnt vor einer verringerten Dynamik im
hiesigen Bildungssystem. Der Vorsitzende des Philologenverbandes,
Heinz-Peter Meidinger, erwartet bei PISA «weder einen jähen Absturz
noch einen überraschenden Höhenflug». Er empfiehlt ohnehin, sich
stärker an innerdeutschen Vergleichsstudien zu orientieren.