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Tausende Kinder Von Dorothea Hülsmeier, dpa

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20 Minuten Singen zweimal die Woche: Mit der Düsseldorfer «Singpause»
haben Zehntausende Grundschüler nebenbei in ihrer Schulzeit nicht nur
singen, sondern auch Noten lesen gelernt. Das erfolgreiche
Bildungsprojekt lässt andere Städte aufhorchen.

Düsseldorf (dpa) – Ein unglaubliches Tohuwabohu herrscht in der
Düsseldorfer Tonhalle. 1000 Grundschüler zwischen sechs und zehn
Jahren schnattern und rufen im städtischen Konzertsaal durcheinander.
Mehrere Singleiter betreten die Bühne, geben Zeichen in alle
Richtungen, augenblicklich wird es still. Dann singen 1000 Stimmen im
einträchtigen Chor «Atte katte nuwa», ein Volkslied aus Lappland. Es
folgen «Im Frühtau zu Berge», «Summer is acoming in» und auch ein
südamerikanisches Indianerlied.

Zur «Singpause» pilgern mehr als 13 000 Kinder aus über 60
Düsseldorfer Grundschulen an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen in
die Tonhalle. Das ganze Jahr lang haben sie in ihren Klassen zweimal
pro Woche 20 Minuten internationale Volkslieder geübt. Eine
gemeinsame Probe gibt es nicht, und doch sitzt beim gemeinsamen
Großkonzert jeder Ton. «Die Kinder könnten auch einen sechsstimmigen
Kanon quer durch die Tonhalle singen», sagt Manfred Hill. Der
72-jährige Chef einer Feuerlöscherfirma und Vorsitzende des
traditionsreichen Städtischen Musikvereins hat vor zehn Jahren das
erfolgreiche musikalische Projekt gegründet.

Seit 2006 haben laut Hill rund 80 000 Kinder bei den Düsseldorfer
Singpausen mitgemacht. Unterrichtet werden sie von professionellen
Sängern in der sogenannten Ward-Methode. Der Effekt: Am Ende der
vierten Klasse «können die Kinder Noten lesen und ein einfaches Lied
vom Blatt singen», sagt Hill. Jede Woche gibt es an den Düsseldorfer
Schulen rund 1160 Singpausen. 42 Sänger wurden inzwischen als
Singleiter ausgebildet. Die Gesamtkosten von rund 680 000 Euro pro
Jahr werden größtenteils von der Stadt und aus Spenden getragen.

Bereits zehn Städte bis hin nach Karlsruhe haben «Singpause»
übernommen. Kürzlich war auch eine Delegation aus Hannover am Rhein.
Hills Bedingungen für den musikalischen Export: Die Singpause muss
für alle Kinder einer Schule offen und kostenlos sein, und sie muss
sich über alle vier Jahre erstrecken. Auch Flüchtlingskinder werden
sofort integriert. Das gemeinsame Singen fremdsprachiger Lieder
verbindet über Sprachbarrieren hinweg. «Man kann in allen Sprachen
dieser Welt singen», sagt Hill.

Hill, Vater dreier Söhne, hat aber auch festgestellt, dass Singen als
Form der musikalischen Bildung in der Gesellschaft verloren geht.
«Wenn man 30- bis 50-Jährige heute fragt, ob sie singen können, sagen
die meisten Nein.» Vielen Erwachsenen sei es peinlich laut zu singen,
denn sie hätten schon als Kinder damit aufgehört. Auch
Tonhallen-Intendant Michael Becker sagt: «In der Schule ist Singen
schon nicht mehr selbstverständlich.»

Die zehnjährige Ricarda hat im Lauf ihrer Grundschulzeit vier
Singpausen-Konzerte mitgemacht. «Das werde ich nie vergessen», sagt
die heutige Fünftklässlerin. «Wir hatten ein richtiges
Gemeinschaftsgefühl.» Noten lesen könne sie jetzt auch. «Es wäre
schön, wenn es auch nach der Grundschule noch eine Singpause gäbe.»

Mit Grundschulprojekten wie der «Singpause» oder dem in
Baden-Württemberg entwickelten Programm «SingBach» und «SingRomantik»
soll der potenzielle Nachwuchs bereits früh für Chormusik motiviert
werden. Bei «SingBach» lernen Drittklässler Lieder, Choräle und
umgearbeitete Arien von Johann Sebastian Bach, die sie in einem
Abschlusskonzert präsentieren.

Der Deutsche Chorverband, in dem mehr als 22 000 Chöre
zusammengeschlossen sind, beobachtet «eine neue Lust am Singen». Der
demografische Wandel treffe zwar auch die Chorlandschaft, sagt
Sprecherin Nicole Eisinger. Aber seit einigen Jahren sei ein
«Aufwärtstrend» zu verzeichnen. «Da kommt einiges nach.» Die
Strukturen der Chöre aber seien heute anders. Die freie Szene etwa
mit kleinen Vocal Pop-Ensembles wachse, denn viele Menschen seien
mobil und könnten sich nicht mehr langfristig auf einen Chor
festlegen. Auch Hill sagt: «Völlig egal, ob einer dann Hip Hop macht
oder was auch immer. Hauptsache, es ist selbst gemachte Musik.»

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