SDS-newsline Onlinezeitung

«Sie war seine Mutter» – Weiterleben nach dem Terror von Berlin Von Ulrike von Leszczynski (Text), Gregor Fischer, Jörg Carstensen, Sebastian Kahnert (Fotos), dpa

| Keine Kommentare

Ein Jahr ist seit dem Terroranschlag an der Berliner Gedächtniskirche
vergangen. Je nach Perspektive fällt der Rückblick anders aus. Doch
alle, Hinterbliebene der Toten, Notfallhelfer und ein Anwalt spüren
die Erschütterung fast wie damals.

Berlin (dpa) – Die Sticknadel steckt noch immer in der filigranen
Handarbeit, die Petr Cizmar im Auto seiner Frau gefunden hat. Ein
Tulpenmuster ist zu sehen, senfgelber Seidenfaden, an einem Blatt
bricht es ab. Für Petr Cizmar ist der hölzerne Stickrahmen ein Symbol
für all das, was seine Frau Nada nicht mehr vollenden kann. Sie
gehört zu den zwölf Menschen, die am Abend des 19. Dezember 2016 beim
Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt an der Berliner
Gedächtniskirche gestorben sind. 34 Jahre alt ist Nada Cizmar
geworden. Das letzte, was sie gesehen haben mag, war ein Lastwagen,
der zwischen geschmückten Tannenbäumen auf sie zuraste.

Wenn Petr Cizmar daran denkt, was seine Frau, die nach der Trennung
vor mehr als zwei Jahren eine gute Freundin blieb, alles nicht mehr
vollenden kann? Er denkt zuerst an David, seinen Sohn, an dessen
Erziehung. «Vielleicht war das ihre wichtigste Aufgabe», sagt er.
David ist jetzt sechs Jahre alt. Es wird sein zweites Weihnachten
ohne Mama. «Es soll so normal werden wie möglich. Das wird nicht
leicht», ergänzt der Vater. Es sei kein Krebs gewesen und kein
Unfall. Das mache einen Unterschied.

PETR CIZMAR: PLÖTZLICH ALLEINERZIEHENDER VATER

Im August ist Petr Cizmar, 39, promovierter Physiker, von
Braunschweig nach Dresden gezogen. Neue Stadt, neues Leben. Ein Grund
war die Arbeit. Er hat jetzt einen festen Job in der
Halbleiterindustrie. Es ist keine Leiharbeit mehr, er braucht
Sicherheit. David ist im Sommer in Dresden in die Schule gekommen.

Er hat seinem Vater von einem Traum erzählt. Im Kindergarten, da
hätten Kugeln gesessen. Und dann sei die Welt kaputtgegangen. «Es
kommt in Wellen», sagt Petr Cizmar. «Mein Gefühl ist, dass David es
teilweise verstanden hat. Aber später wird er es besser verstehen und
verarbeiten müssen.» Für eine Traumatherapie fehle bisher die Zeit.
Zeit, das wäre das größte Geschenk für einen alleinerziehenden Vater
mit Vollzeitjob in der Probezeit.

Fast ein Jahr lang hat Nada Cizmars Foto am improvisierten
Erinnerungsort an der Gedächtniskirche gehangen. Es zeigt eine Frau
mit kastanienbraunen Haaren. Zwölf Tote haben hier einen Namen
bekommen, acht von ihnen auch ein Gesicht. «Ich habe zugestimmt,
dass Nadas Name öffentlich wird», sagt Petr Cizmar. «Da ist keine
unbekannte Tschechin umgekommen, sondern ein echter Mensch.»

Dann sagt er noch etwas. «Das war ein völliges Versagen des Staates,
dass er diesen Anschlag nicht verhindert hat.» Im Laufe des Jahres
ist für ihn noch etwas dazugekommen. Er nennt es die Ignoranz der
Politik.

OFFIZIELLES UND PRIVATES

Am 19. Dezember wird es in der Gedächtniskirche ein Gedenken geben.
Zum Jahrestag des Anschlags soll vor der Tür ein Ort der Erinnerung
das Provisorium ablösen. Ein Riss aus Metall wird sich die Stufen zur
Kirche hochziehen, die Namen der Toten sollen auf den Stufen zu lesen
sein.

Damit geht ein Jahr zu Ende, in dem Untersuchungsausschüsse den
Polizeibehörden Fehler nachwiesen. Nicht allein bei der Einschätzung
des Attentäters Anis Amri. Es geht auch um die Frage des Vertuschens.

Es ist ein Jahr, an dessen Ende die Familien der Toten einen offenen
Brief schreiben und der Opferbeauftragte Kurt Beck ihrem Unmut über
Bürokratie, fehlende Empathie und Herzlosigkeit nicht widerspricht.
Es ist das Ende eines Jahres, in dem Verletzte in Reha-Einrichtungen
weiter um ihre Rückkehr ins Leben kämpfen, ohne Arme oder Beine. Es
sind Tage, in denen bei den Traumatherapeuten der Opferhilfe Berlin
das Telefon klingelt. Weil Menschen den Anblick des Weihnachtsmarkts
an der Kirche nicht ertragen. Trigger nennen Psychologen das.

Je nach Schicksal fällt der Rückblick anders aus. In Berlin vertritt
Rechtsanwalt Steffen Tzschoppe die Studentin Valeriya Bagratuni, die
vor einem Jahr beide Eltern verlor. Anna und Georgiy Bagratuni
schickten ihrer Tochter abends ein heiteres Foto vom Glühweintrinken
auf dem Weihnachtsmarkt aufs Handy. Minuten später waren sie tot. Ein
Paar aus der Ukraine, Mitte 40, das sich in Berlin eine Existenz
aufgebaut hatte. Die Tochter stand mit 22 vor dem Nichts.

Tzschoppe ist Mitte 50, ein Strafverteidiger, dem in diesem Job wenig
Menschliches fremd ist. Er war in den 1990er Jahren Johannes
Weinrichs Anwalt, der als rechte Hand des Terroristen «Carlos» galt.
Im Moment ist es ein Rocker-Prozess. Macht es einen Unterschied, ob
er Täter vertritt oder Opfer? Tzschoppe überlegt. «Nein, eigentlich
nicht», sagt er. «Der Täter soll ein faires Verfahren kriegen. Und
Opfern soll, so gut es geht, Gerechtigkeit widerfahren. Vor allem
sollen sie alle Informationen bekommen.»

STEFFEN TZSCHOPPE: DER ANWALT

Die Informationen über den Anschlag stehen in den Akten der
Ermittler. Um Einsicht zu erhalten, brauchen Betroffene einen Anwalt.
«Ich mach‘ das seit 20 Jahren, ich hab‘ ein dickes Fell», sagt
Tzschoppe. Doch die Fotos aus der Akte Bagratuni seien selbst ihm
nahegegangen. Die gesplitterte Scheibe des LKW. Der tote Fahrer.
Erschossen. Bilder aus dem Computertomografen, die zerschmetterte
Körper zeigen. Valeriya Bagratuni studiert Zahnmedizin. Sie kann
diese Bilder lesen. Tzschoppe hat ihr die Akte nicht gegeben, obwohl
sie danach gefragt hatte. «Das ist zu gruselig. Sie soll ihre Eltern
lebendig in Erinnerung behalten.»

Tzschoppe hat dem Bundeskriminalamt gesagt, dass er keine blutige
Kleidung zurückhaben will. Er hat seiner Mandantin geraten, nicht
mehr mit Medien zu sprechen und eine Traumatherapie zu beginnen. Sie
studiert weiter. Wie geht es ihr? Tzschoppe weiß das für den Moment
nicht. Das Studium finanziert jetzt ein Ehepaar, private Spender.

Steffen Tzschoppe hat kein Geld für seine Arbeit genommen, eine
Ausnahme. Er findet, dass sich ihm gegenüber alle tadellos verhalten
haben – Bundeskriminalamt, Landeskriminalamt, die Senatsverwaltung,
Versicherungen, Banken. «Ich kann nur für Valeriya sprechen. Sie hat
viel Hilfe bekommen, auch altruistische, großzügig, kulant.»

Er glaubt nicht, dass es zu einem Strafprozess kommt. «Amri ist tot,
und möglichen Unterstützern wird man nicht ausreichend etwas
nachweisen können», mutmaßt er. Staatshaftung? Dafür müsste man den
Behörden Vorsatz nachweisen, heißt es hinter vorgehaltener Hand aus
dem Bundesjustizministerium. So gut wie aussichtslos.

«Das Blöde an unserem föderal strukturierten System sind die
Zuständigkeitsrangeleien», sagt Tzschoppe. Natürlich ärgere das, was
jetzt alles an Pannen herausgekommen sei. Aber Menschen machten
Fehler, auch die Polizei. «Man hat doch mit allem gerechnet, aber
nicht mit einem LKW, der in einen Weihnachtsmarkt rast», ergänzt er.
Der letzte große Terroranschlag in Berlin, das sei das Attentat auf
die Diskothek La Belle in den 80er Jahren gewesen. «Das hat doch
niemand mehr auf dem Schirm, das ist eine Generation her.»

Es gibt Menschen, die am Abend des 19. Dezember dabei waren, und die
anders denken. So wie Matthias Motter, Notfallseelsorger und Pfarrer
an der Berliner Zionskirche. «Ich hab sofort gedacht, das wird jetzt
unser Berliner Nizza», sagt er.

DIE NOTFALLHELFER

Daniela Birk weiß, wie sich Nizza anfühlt. Sie hat die Berliner
Schulklassen betreut, die die Strandpromenade entlang spazierten, als
ein Lastwagen im Sommer 2016 in voller Absicht in die Menge gesteuert
wurde. Unter den 86 Toten waren 2 Berliner Schülerinnen und 1
Lehrerin. Daniela Birk ist 52, Kommunikationsdesignerin und seit neun
Jahren ausgebildete Notfallseelsorgerin. Ein Ehrenamt. «Eine solche
Schocksituation bei Menschen habe ich noch nie erlebt», sagt sie.
«Terror ist etwas anderes, das fühlt sich anders an als ein Unfall.»

Die Traumatisierungen, die Zahl der Betroffenen, die etwas
Unfassbares zu begreifen versuchten: eine tödliche Bedrohung aus dem
Nichts. Manche verstummten, andere könnten nicht aufhören zu reden.
«Und an der Gedächtniskirche hat sich das für mich wieder so
angefühlt», ergänzt sie.

Für Matthias Motter gehört der Tod zum Leben, schon von Berufs wegen.
Auch der unzeitige, wie er ihn nennt. Er hat in der Nacht nach dem
Berliner Anschlag in einem Feuerwehrbus mit Leichtverletzten
gesprochen. Es waren die mit den grünen Bändchen am Arm. Die mit den
schwarzen waren tot, die mit den roten ein Fall für den Notarzt.

Matthias Motter hat Menschen erlebt, die in dem Hilfs-Bus ihr Leben
neu sortierten. Denen klar wurde, dass sie ein schwarzes Bändchen am
Arm trügen, hätten sie nur fünf Meter weiter rechts gestanden. Er hat
Angehörige erlebt, die Stunden, manchmal Tage, die Ungewissheit
quälte, wer lebt und wer tot ist. «Es gibt keinen vollständigen
Schutz vor solchen Katastrophen», sagt er. Aber es gibt für ihn eine
bessere Vorbereitung darauf. Die neue Anlaufstelle für Terroropfer,
die sie in Berlin fast ein Jahr nach dem Anschlag schaffen wollen,
zählt er dazu.

ERINNERUNGEN AN DIE TOTE FRAU

Nada und Autos – das kommt Petr Cizmar in den Sinn, wenn er sich an
seine Frau erinnert. Wie sie in den USA souverän mit riesigen
Ami-Schlitten durch die Gegend kurvte und für ihren Au-pair-Job
Kinder zum Spielplatz chauffierte. «Das hat mir gefallen», sagt er.
«Und wie sie mit den Kindern gespielt hat.» Mehr als zehn Jahre ist
das her. Nada habe im Internet nach Landsleuten gesucht, weil sie in
den USA ihre Muttersprache sprechen wollte. Petr Cizmar, der nach dem
Studium in Tschechien in Washington arbeitete, antwortete ihr. Sechs
Jahre hat er in den Staaten gelebt, dort haben sie geheiratet. David
ist in den USA zur Welt gekommen. Dann ging es nach Deutschland.

Nada Cizmar war Logistikerin. Für eine tschechische Firma in Berlin
berechnete sie zuletzt LKW-Ladungen. Im Oktober 2016 hatte sie eine
Wohnung gefunden, nach langer Suche. Nun sollte es einfacher werden,
auch mit David. Um ihn sollte sich der Vater in Braunschweig kümmern,
bis sich die Mutter in Berlin eingerichtet hat. Das war der Plan.

Am Abend des 19. Dezember wollten Nada Cizmars Kollegen auf den
Weihnachtsmarkt. Sie hatte wenig Lust. Sie wollte lieber Plätzchen
backen, aber auch keine Spaßbremse sein. Sie telefonierte mit ihrem
Mann und fragte, ob es David gut gehe.

Petr Cizmar war am Tag nach dem Anschlag auf der Suche nach seiner
Frau. Niemand konnte ihm etwas sagen, ihr Handy war nicht mehr zu
erreichen. «Ich bin kein Mensch, der herumsitzt und wartet», sagt er.
Er wurde von einer Pförtnerin aus einer Klinik geworfen, in der
Verletzte lagen. Er erlebte, wie Ermittler in die Wohnung seiner Frau
kamen, Fingerabdrücke nahmen und DNA-Proben, ohne Worte.

Petr Cizmar spricht drei Sprachen fließend. Er ist ein Mann, der in
Wahrscheinlichkeiten denkt, Sätze abwägt und sachlich bleibt. Als
zwei Polizisten am 23. Dezember in Braunschweig an der Tür klingeln,
nach vier Tagen Ungewissheit, weiß er, was kommt. Er sagt seinem
Sohn, dass Mama Weihnachten nicht nach Hause kommen kann. Und dass
Totsein bedeutet, dass sie nie mehr kommen kann.

GROSSE UNTERSCHIEDE ZWISCHEN DEN STAATEN

Petr Cizmar erinnert sich an den tschechischen Botschafter, der noch
am selben Abend von Berlin nach Braunschweig fuhr. Er denkt an den
Anruf des tschechischen Außenministers. «Das hat mir gezeigt, dass
der Staat das ernst nimmt», sagt er. Es hat ihm geholfen. Von den
deutschen Behörden habe er damals nichts gehört. «Anfang Januar hatte
ich das Gefühl, dass die deutsche Politik das vergessen will.»

Später seien Briefe vom Bundesjustizminister gekommen, vom
Außenminister und eine Einladung des damaligen Bundespräsidenten
Joachim Gauck. Doch in all den Monaten seit dem Anschlag hat Petr
Cizmar eines vermisst: eine Reaktion von Angela Merkel. Ein Statement
der Kanzlerin. Kein Kondolenzschreiben, sagt Petr Cizmar. Was hätte
er sich gewünscht? «Einen Satz wie: «Ich tue mein Menschenmögliches,
dass so etwas nicht wieder passiert.»» Oder einen Gedanken dazu, ob
es weiter Einwanderung geben soll, ohne Kontrollen. Der Physiker
kommt auf Wahrscheinlichkeiten zurück. Selbst wenn unter einer
Million Flüchtlingen 99,9 Prozent rechtschaffene Menschen seien – was
ist mit den 0,1 Prozent?

Wenn es am 18. Dezember zum Treffen zwischen Bundeskanzlerin und
Hinterbliebenen kommt, einem Treffen, dass aus Petr Cizmars Sicht
viel zu spät stattfindet und nur auf großen Druck hin, dann möchte er
ihr das alles persönlich sagen. Er würde fragen, warum nach all den
Fehlern und Versäumnissen niemand zurückgetreten ist. «Wenn ich in
meinem Bereich so arbeiten würde, dann wüsste ich nicht, ob ich
einfach so weitermachen könnte», sagt er.

Petr Cizmar hat seine Frau in Veseli nad Luznici begraben, rund 100
Kilometer von Prag. Er hat sich gefreut, dass ihm fremde Menschen
Karten schickten, manche sogar Spenden. Die private Anteilnahme tat
ihm gut. Später hat er ratlos über Formularen der deutschen Behörden
gesessen. Dort habe gestanden: «Beschreiben Sie Ihr Verhältnis zum
Täter.»

Petr Cizmar wirkt nicht verbittert. Er rechnet es dem
Opferbeauftragten und SPD-Politiker Kurt Beck hoch an, dass dieser
ihn besuchte und half. Jüngst ging es darum, die Stadt Dresden zu
überzeugen, dass David neben Schule und Hort eine Tagesmutter
braucht. Die Finanzierung ist nun geregelt. Das Problem ist nur, dass
Cizmar noch nicht weiß, wie er eine Tagesmutter finden soll. Einfach
eine Anzeige schalten?

Er will jetzt die Akten lesen, alle Details. Dann möchte er eine
Vater-Kind-Kur machen, die schon lange bewilligt ist. Nach Ostern,
vielleicht. Petr Cizmar mag in der Probezeit nicht länger freinehmen.
Selbst wenn er denkt, dass sie seine Lage in der Firma verstehen
würden. Doch er kennt die Wahrscheinlichkeit nicht genau.

Am 19. Dezember wird er zum Gedenken nach Berlin kommen. Es ist ihm
wichtig. David will er mitnehmen. «Sie war seine Mutter», sagt er.
Und vielleicht werde es die letzte offizielle Erinnerung an sie sein.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.