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Ohne Fürsprecher verloren – Probleme bei der Pflege Schwerbehinderter

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Ein Gesunder und ein Schwerbehinderter freunden sich an. Der eine
nimmt den anderen zu sich. Das ist jetzt 20 Jahre her – und mit
ständigen Kämpfen verbunden. Ein Besuch.

Karlsruhe (dpa) – Christian Kenk fährt vor, in der Sonne die Rampe
hinunter, Bernd Mann übernimmt am Joystick das Lenken. Kenk kniet wie
immer auf seinem Rollstuhl, das klappt nämlich besser als Sitzen und
Mann läuft nebenher. Kenk ist fast sein ganzes Leben lang
schwerbehindert – und Mann kümmert sich mehr als sein halbes Leben
schon um ihn. Sie sind kein Paar. Sie sind Freunde, manchmal wie
Brüder. Sie wohnen seit 20 Jahren zusammen. Und sie sind erschöpft.
Der eine von seiner Behinderung – und der andere von der Pflege. Die
Konstellation ist ungewöhnlich, doch ihre Nöte sind beispielhaft für
die Situation in der Pflege Schwerbehinderter.

Bernd Mann ist kaum 25 Jahre alt, als er Christian Kenk zu sich
nimmt. Kennengelernt hat er ihn bereits Jahre zuvor als
Zivildienstleistender, da ist Christian 15 Jahre alt und schon seit
einem Jahrzehnt schwer behindert. Seine Diagnose: schwere Dystonie,
eine genetisch vererbte Krankheit, bei der sich die Muskeln plötzlich
verkrampfen. Normale Bewegungsmuster werden erschwert; bei Christian
ist vieles bald unmöglich. Laufen zum Beispiel, zur Toilette gehen,
sich konzentrieren, selber essen. Spielen. Als Bernd ihn zum ersten
Mal sieht, ist Christian ein einsamer Jugendlicher. Unterfordert,
traurig und sehr krank. Wenn ihn damals jemand umarmt, hält er ihn so
lange wie möglich fest. Aber es kommen eh nicht viele zu Besuch.

«Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, hätte ich ihn nicht zu
mir genommen», sagt Bernd Mann. Heute ist er 47 Jahre alt und
Christian 41. Dass sie inzwischen in einem behindertengerecht
umgebauten Haus mit Garten in Karlsruhe wohnen, dass Christian rund
um die Uhr unter optimalen Bedingungen gepflegt werden kann, dass
sich neben Bernd eine weitere Vollzeitkraft sowie zwei, drei
Teilzeitbetreuer um ihn kümmern können – das alles ist eine Mischung
aus ein bisschen Glück und jeder Menge Hartnäckigkeit. Kampf mit
Krankenkassen, mit Behörden, vor Gericht um Geld, um Versorgung, um
Hilfsmittel. Um Würde.

«Für mich war es wichtig, dass Christian ein Zuhause hat», sagt Bernd
Mann. Er zieht alle Fäden, organisiert den Alltag von Kenk, kümmert
sich um das Auto, das den Anhänger für dessen Liege-Rolli zieht, um
die Liege für Krankengymnastik, die Arbeitsverträge der Betreuer. Er
erstritt mühsam das Recht, von Kenk als Betreuer angestellt zu
werden. Er setzte ein persönliches Budget für ihn durch, das selbst
verwaltet werden darf und mit dem Pflegeleistungen bezahlt werden.

Aus dem gesetzlich verankerten Recht auf Teilhabe Behinderter und
ihrer Versorgung mit Hilfsmitteln – vom Rollstuhl bis zum Pflegebett
– wird nicht selten ein Kampf. Zermürbend, so wie ihn auch Bernd und
Christian erlebt haben. Zwar liegt der Krankenkasse Barmer GEK
zufolge die Zahl der Widersprüche bei rund 2,5 Millionen
Hilfsmittelversorgungen im Jahr bei nur 0,06 Prozent.

Die Qualität der Versorgung messe sich aber gerade nicht an der Zahl
der Beschwerden, betont Rechtsanwalt Jörg Hackstein,
Gesundheitsmarkt-Fachmann und Experte auf der Inklusionsmesse Rehab,
die am Donnerstag begonnen hat. Nur ein sehr geringer Teil der
Betroffenen lege überhaupt Widerspruch ein. «Das beruht auf
Ohnmachtsgefühl oder Angst vor Ärger.» Das bestätigt auch der
Landesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte (LVKM). «Die
Betroffenen sind ein ganzes Leben auf die Kasse angewiesen», empört
sich Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl. «Die trauen sich doch gar
nicht, zu klagen.» Und überhaupt: «Woher soll die Kraft dazu kommen?»

Seit 2014 hat Kenk einen Hirnschrittmacher, sein Zustand ist deutlich
besser. Aber Pflege macht eben müde, man sieht es Bernd Mann an. Auch
die Behinderung macht müde, man sieht es Christian Kenk an. «Da gibt
es nix zu romantisieren», sagt Bernd Mann, geschieden, zwei Söhne.
Für Ausgehen und Frauen war da nicht soviel Platz.

Spricht man sie auf ihre Gefühle füreinander an, dann fällt als
erstes das Wort Respekt, dann Bewunderung. Respekt für den Umgang des
Schwerbehinderten mit seiner Schwerbehinderung. Respekt für den
Gesunden, der für immer Verantwortung für zwei Leben übernommen hat:
seines und das des anderen. «Wir kämpfen beide und jeder versucht,
sein Bestes zu geben.»

So langsam will sich Bernd Mann zurückziehen, nicht aus dem Leben,
aber aus der Pflege. «Mal ein Buch lesen.» Mit dem Sohn nach dessen
Abitur nach Kanada reisen. «Zeit», sagt er auf die Frage, was ihm
fehlt. «Zeit.» Aber er kann sich nicht vorstellen, dass sein Leben
besser geworden wäre, wenn er sich anders entschieden hätte.

Die beiden haben im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht. Es
heißt «Schwer behindert – leicht bekloppt». Auf der Rehab lesen sie
daraus. Sie wollen, dass ihr Umgang mit Behinderung Schule macht. Sie
wollen klarmachen, dass es in der Behindertenhilfe nicht immer nur um
Geld, sondern um Emotionen geht. «Wenn die Leute fühlen, wovon du
sprichst, sind sie bereit zuzuhören», sagt Bernd Mann.

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