SDS-newsline Onlinezeitung

Integration mit Tönen – Projekt setzt auf verbindende Kraft der Musik

| Keine Kommentare

Das musikpädagogische Projekt «El Sistema» aus Venezuela macht in
vielen Ländern Schule. Auch in Sachsen wirkt es in abgewandelter Form
als «Musaik» seit kurzem an einem sozialen Brennpunkt.

Dresden (dpa) – So richtig will sich der neunjährige Sami noch nicht
festlegen. Auf die Frage, welchen Beruf er später einmal haben
möchte, zeigt sich der Junge aus Bagdad schwankend. «Taekwondo, Kung
Fu oder Geige.» Die Reihenfolge will noch nichts sagen. Jetzt sitzt
der kleine Iraker erst einmal am Cello im «Kiez», einem gläsernen
Raum im Einkaufszentrum Dresden-Prohlis. Gemeinsam mit anderen
Kindern übt er auf den leeren Saiten. Der Griff der Finger kommt
später dazu.

Vor ihnen steht Musikpädagogin Luise Börner und versucht, ihr
international besetztes «Musaik»-Orchester zusammenzuhalten. Die
Mädchen sind in der Überzahl, deutsche Kinder in der Minderheit.
Dresden-Prohlis wird oft als sozialer Brennpunkt bezeichnet. Hier
sind viele Flüchtlingsfamilien untergekommen. Hier ist der Anteil von
Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, höher als in anderen
Stadtteilen Dresdens. Genau deshalb sind Luise Börner und ihre
Mitstreiterin Deborah Oehler nach Prohlis gegangen – dahin, wo
Dresden ziemlich anders ist als in der barocken Innenstadt.

Dreimal in der Woche unterrichten sie hier Kinder, die sonst kaum
Zugang zu einer musikalischen Ausbildung hätten. Es ist kein
spezielles Engagement für Flüchtlingskinder, obwohl deren Anteil das
Gros der Schüler ausmacht. Auch Einheimische ergreifen die Chance,
ihren Kindern etwas Schönes zukommen zu lassen.

«Musaik» ist ein Kind von «El Sistema»: Der Komponist und Ökonom
José Antonio Abreu aus Venezuela hatte das Sozialprojekt in seinem
Heimatland Mitte der 70er Jahre gegründet. Es gibt Kindern ärmerer
Familien kostenlos Unterricht und Instrumente. Dafür spielen sie in
Ensembles mit. Aushängeschild ist das Simón Bolívar Jugendorchester,
dessen Chefdirigent Gustavo Dudamel selbst dem «System»» entstammt.
Das Jugendorchester besitzt weltweit eine Fangemeinde.

Luise Börner erlebte «El Sistema» in abgewandelter Form in Peru. Dort
heißt es «Arpegio» (Akkord). Die 30-Jährige hat nach ihrem Studium
zwei Jahre in dem Andenstaat verbracht. 2016 war sie mit dem
Landesjugendorchester Sachsen dort, das zusammen mit Jugendlichen aus
Peru musizierte. Das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören und dabei
etwas Wohlklingendes zu schaffen, empfindet Börner nun auch als
entscheidenden Impuls für ihre Arbeit in Dresden.

«El Sistema» ist bis heute eine Erfolgsgeschichte. Während das
Programm im krisengeschüttelten Ursprungsland Venezuela um den
Fortbestand ringt, hat es in anderen Ländern viele Nachahmer
gefunden. In Wien läuft es unter dem Namen «Superar» – auch hier
findet die Arbeit mit Chören und Orchestern ausschließlich in der
Gruppe statt. Über das El Sistema Europa Development Programme sind
inzwischen Initiativen aus Bosnien-Herzegowina, Großbritannien,
Italien, der Slowakei und der Türkei beteiligt. In Deutschland gibt
es ähnliche Bemühungen beispielsweise in Hamburg und
Nordrhein-Westfalen.

Der Deutsche Musikrat lobt solche Projekte in den höchsten Tönen. Sie
könnten nicht nur Türen öffnen und Kindern eine Begegnung mit Musik
in ihrer ganzen Vielfalt ermöglichen, sagt Generalsekretär Christian
Höppner und nennt Programme wie «Jekits», bei dem Grundschüler in
Nordrhein-Westfalen das Spiel auf Instrumenten, Tanzen und Singen in
der Gruppe erlernen. «Wir kennen eine ganze Reihe von Aktivitäten in
Deutschland, die Elemente von «El Sistema» aufnehmen.» Doch der
explizite Bezug wie in Dresden sei schon etwas Besonderes.

Höppner verweist auf die Rolle von Musik bei der Integration von
Flüchtlingen. Es sei eine große Chance, Anregungen anderer Kulturen
aufzunehmen und zugleich Migranten an das reichhaltige Erbe des
musikalischen Schaffens in Europa heranzuführen: «Das geht am besten
über das aktive Spiel, vor allem wenn noch Sprachbarrieren vorhanden
sind. Mit Musik kann man fast ohne Sprache anfangen.»

Bislang ist «Musaik» eine rein private Angelegenheit, Börner und ihre
Mitstreiter bekommen für ihre Arbeit keinen Cent. Wenn das Projekt
langfristig sein und die Ausbildung für besondere Talente vertieft
werden soll, müsste Beistand her. Jetzt verhandelt man mit Stiftungen
und der Stadt Dresden. Es geht um gar nicht so viel Geld, die
Begeisterung aller Beteiligten ist schon mehr als die halbe Miete.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.