Menschen mit Behinderung können häufig nicht selbst bestimmen, wie
sie arbeiten, wohnen, den Tag verbringen. Die Koalition lässt eine
große Reform anrollen. Gelingt es, das Leben von Millionen Menschen
zu verbessern?
Berlin (dpa) – Seit Jahren warten Menschen mit Behinderung in
Deutschland auf einen Durchbruch für mehr Rechte. Nun soll es endlich
so weit sein. Sie sollen besser wählen können, wo und wie sie leben.
Sie sollen Geld ansparen können. Barrieren sollen abgebaut,
Gleichberechtigung soll gestärkt werden – das sind Ziele eines der
großen sozialpolitischen Projekte, die die Bundesregierung nun auf
den Weg bringen will. Kann die Reform die Versprechen einhalten?
Nach monatelangen Beratungen und Verhandlungen gibt es einen mehr als
360 Seiten starken Entwurf für das Bundesteilhabegesetz aus dem
Bundessozialministerium. Jetzt sendete das Bundeskanzleramt das von
Ressortchefin Andrea Nahles (SPD) angestrebte grüne Licht für die
weitere Abstimmung in der Regierung – ein Kabinettsbeschluss und das
weitere normale Gesetzesverfahren sollen folgen. Für die Fachszene
ist das nach Gezerre bis zuletzt schon ein Durchbruch.
Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung sind schwerbehindert – 7,5
Millionen. Bis 2020 sind nun Mehrausgaben für den Bund von mehr als
1,5 Milliarden vorgesehen, für Länder und Gemeinden von 350 Millionen
Euro. Doch beim Geld ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Dazu
soll in der Regierung noch eine Runde gedreht werden, auch mit den
Ländern war man sich zuletzt nicht einig.
Geht es nach Ulla Schmidt, ist eine schnelle Einigung bitter nötig.
Die frühere Gesundheitsministerin ist heute Vizepräsidentin des
Bundestags – und Vorsitzende der Lebenshilfe, einer Vereinigung für
Menschen mit geistiger Behinderung. «Das Gesetz beschreibt Schritte
hin zu einem fundamentalen Umdenken», sagt Schmidt. Die
Eingliederungshilfe solle schrittweise aus der Sozialhilfe geholt
werden. Für Menschen mit Behinderung sei das immens wichtig – sie
wollten mehr Wahlrecht. «Sie wollen selbst entscheiden, wo und mit
wem sie leben, wo und wie sie arbeiten wollen.»
Vergangenes Jahr stellten die Vereinten Nationen fest: Deutschland
müsse mehr tun. Bund und Länder koordinierten sich schlecht in dem
Bereich. Nur 28 Prozent der behinderten Schüler besuchten eine Regel-
statt einer Förderschule. Eine normale Arbeit jenseits spezieller
Werkstätten zu finden, sei für viele schwer. Leistungen zur
Selbstbestimmung fehlten.
Angesetzt werden soll an mehreren Stellen. Die Ausgaben für
Eingliederungshilfe sind seit 2005 von 11,3 auf 16,4 Milliarden Euro
gestiegen. Trotzdem kann es zu Armut führen, wenn man behindert ist
und Eingliederungshilfe bezieht. Denn heute darf man nur 2600 Euro
besitzen – alles andere wird angerechnet. Auf bis zu 50 000 Euro soll
die Schwelle in Stufen ansteigen, Partnereinkommen sollen
freigestellt werden. «Die Erhöhung weist in die richtige Richtung»,
sagt Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland.
Doch ausreichend sei es nicht. Auch Schmidt meint, Ziel müsse eine
komplette Freistellung des eigenen Einkommens sein.
Die Leistungen für Behinderte sind heute in den Bundesländern oft
unterschiedlich – und für die Betroffenen wenig übersichtlich. Oft
müssen sie von Hilfeträger zu Hilfeträger laufen – künftig soll einer
erstzuständig sein und die Anträge weiterleiten. Ein anderes Beispiel
betrifft den Schritt aus den geschützten Werkstätten in den normalen
Arbeitsmarkt. Er fällt vielen schwer. Ein «Budget für Arbeit» für
Arbeitgeber soll helfen. Wer Betroffene einstellt, soll einen
unbefristeten Lohnkostenzuschuss erhalten.
Nicht alle Pläne stoßen bei Experten auf Zustimmung. Schmidt mahnt,
dass Betroffene den Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente nicht
länger verlieren dürften, wenn sie den Wechsel aus einer Werkstatt in
einen regulären Job wagen. Anderes Beispiel: Leistungen für
Assistenten zur Mobilität dürften nicht gepoolt werden. «Sonst müssen
die Menschen immer warten, bis sie zum Beispiel in die Stadt können.»
Führt das nun auf den Weg gebrachte Gesetz wirklich zu handfesten
Verbesserungen? «Es dürfen uns keine Assistenzpersonen vorgeschrieben
werden, mit denen wir nicht einverstanden sind», betont etwa Uwe
Frevert von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben. «Dies
verletzt unsere Würde und unsere Intimsphäre.» Ottmar Miles-Paul, der
seit Jahren für Rechte von Behinderten kämpft, sprach vor wenigen
Tagen von «einem trügerischen Traum», dass Behindertenrechte
umgesetzt würden. Er sah die Zeit für verstärkte Proteste gekommen.