Noch eine Aufgabe mehr und noch eine: So mancher Berufstätige fühlt
sich im Dauerstress. Wer auf der Suche nach Strategien zur
Stressprävention ist, stößt fast zwangsläufig auf das Konzept
Achtsamkeit. Wie funktioniert das? Und für wen ist das etwas?
Witten/Berlin (dpa/tmn) – Man stelle sich vor: Im Büro steht ein
Meeting an, und der Chef kommt mit folgender Idee an: Alle, die um
den Konferenztisch herumsitzen, sollen eine Minute die Auge
schließen. Sie sollen sich klarmachen, wie sich der Raum anfühlt, in
dem sie gerade sitzen, und ihren Atem spüren. Sie sollen ihren Körper
wahrnehmen und kurz überlegen, worum es ihnen bei dem Treffen geht.
Dann machen alle die Augen wieder auf, und voll konzentriert geht das
Meeting los. Die Vorstellung klingt völlig esoterisch? Solche Übungen
werden bereits in Firmen praktiziert. Das Konzept dahinter heißt
Achtsamkeit. Befürworter versprechen sich davon mehr Konzentration –
doch was ist dran?
Achtsamkeit scheint in Mode zu sein: Ähnlich wie sich Yoga-Studios im
ganzen Land verbreiten, gibt es heute kaum noch eine Kleinstadt ohne
Achtsamkeitskurs. Das Konzept hat eine Antwort auf ein Problem, dass
viele Beschäftigte haben: Stress. Inzwischen hat deshalb auch die
Arbeitswelt Achtsamkeit entdeckt. Prioritäten setzen, Grenzen ziehen
und sich fokussieren: Wer Achtsamkeit beherrscht, soll darin besser
werden. Das spricht Berufstätige an, deren Arbeit sich zunehmend
verdichtet und die das Gefühl haben, dass sie ihre To-do-Liste nicht
mehr in den Griff kriegen. «Man sollte da aber keinem Hype
unterliegen», sagt Prof. Johannes Michalak von der Universität
Witten/Herdecke, der zum Thema Achtsamkeit forscht. «Achtsamkeit
hilft bei der Stressprävention und bei vielen körperlichen und
psychischen Störungen, ist aber kein schnelles Allheilmittel.»
Das Konzept kommt ursprünglich aus dem Buddhismus und geht in seiner
hier praktizierten Form häufig auf den Amerikaner Jon Kabat-Zinn
zurück. Der Biologe hat Ende der 70er Jahre das Programm
«Mindfulness-Based Stress Reduction» entwickelt, ein achtwöchiger
Kurs, den er ursprünglich zur Behandlung von Patienten einsetzte, die
als austherapiert galten. Das waren Menschen mit chronischen
Erkrankungen oder psychischen Beschwerden, bei denen Medikamente
nicht halfen. Für sie entwickelte er die Achtsamkeitstherapie mit
Prinzipien, die aus dem Bereich östlicher Meditationstraditionen und
dem Yoga stammen. «Achtsamkeit ist eine Haltung, die man durch
Meditation versucht, einzuüben. Es geht darum, im Hier und Jetzt zu
sein und sich wohlwollend zu begegnen», erklärt Prof. Michalak.
Ein Beispiel: Hat man an einem Tag mehr Punkte auf der To-do-Liste,
als man schaffen kann, ist man meistens schon morgens beim Frühstück
gestresst. Dabei ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts passiert –
es gibt zu dem Zeitpunkt noch keine Aufgabe, die unerledigt geblieben
ist. Wer Achtsamkeit praktiziert, versucht erst einmal, sich auf den
Moment zu konzentrieren und wahrzunehmen, was die eigenen Gefühle
sind, erklärt Günter Hudasch, der im Vorstand vom MBSR-MBCT-Verband
ist, dem Zusammenschluss der Achtsamkeitslehrer in Deutschland. Statt
intuitiv auf die volle To-do-Liste mit Stress zu reagieren, tritt man
einen Schritt zurück. Durch diesen Ausstieg kann man mit einem
klareren Kopf eine Entscheidung treffen, wie mit der Situation
umzugehen ist. «Eigentlich ist es ein Programm, mit dem man Freiheit
gewinnt», sagt er.
Während Achtsamkeit als Behandlungsmethode in der Psychotherapie und
im klinischen Kontext recht gut erforscht ist, gibt es im Vergleich
dazu wenig Forschung zum Thema Achtsamkeit und Arbeitswelt. Eine, die
sich damit befasst, ist Ute Hülsheger, assoziierte Professorin an der
Fakultät für Psychologie und Neurowissenschaft an der Universität
Maastricht. In einer Studie konnte sie zeigen, dass Menschen, die bei
der Arbeit im direkten Kontakt mit anderen sind, weniger Stress
erleben, wenn sie achtsam sind. «Wir wissen aber zum Beispiel noch
nicht, ob Achtsamkeit bei der Stressprävention besser wirkt als
andere Methoden wie die Progressive Muskelprogression», sagt sie. Wer
davon träumt, mit Achtsamkeit seine persönliche Leistungsfähigkeit zu
optimieren, sollte ebenfalls vorsichtig sein. «Wir wissen noch nicht
mit Sicherheit, ob Achtsamkeit die Leistung erhöht», sagt Hülsheger.
Und noch in einem anderen Punkt sind sich alle drei Experten einig:
Stimmen die Rahmenbedingen bei der Arbeit nicht, weil es zum Beispiel
zu wenig Personal oder zu viele Aufgaben gibt, dann hilft auch kein
Achtsamkeitskurs, um diese Probleme zu lösen. «Es besteht die Gefahr,
dass dem Mitarbeiter die Verantwortung zugeschoben wird, sich noch
mehr zu optimieren», sagt Hülsheger. Doch ist das nicht der Fall,
könne Achtsamkeit eine gute Methode sein, um sich selbst eine
Strategie für den Umgang mit Stress anzueignen.
Wer sich damit befassen will, kann sich erst einmal autodidaktisch
selbst einlesen. Eine andere Möglichkeit ist, einen Kurs zu besuchen.
Einige Krankenkassen bezuschussen sie inzwischen, hier lohnt es sich,
einmal nachzufragen. Bei der Auswahl des Lehrers sollte man auf eine
qualifizierte Ausbildung sowie auf eine langjährige Praxiserfahrung
achten, rät Prof. Michalak. Außerdem macht man am besten vorab einen
Gesprächstermin aus, um sich anzuschauen: Kann ich dem Lehrer
vertrauen? Kann ich mich auf ihn einlassen?
Wenn sich auf Achtsamkeit einlassen kann und Zugang bekommt, hat im
besten Fall viel zu gewinnen. «Man sagt, man ist damit besser im
Kontakt mit sich und seinen Werten», sagt Hülsheger. Und wer weiß: Im
besten Fall geht mit der Achtsamkeitsübung zu Beginn des Meetings das
Treffen einfach schneller und konzentrierter vorbei.