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Das ist Augenwischerei»: Wie Schüler gegen die Statistik kämpfen

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Eigentlich dürfte es genug Lehrstellen geben – das legt zumindest die
Statistik nahe. An der Gesamtschule Bremen-Ost gehen trotzdem viele
junge Leute leer aus. Erst dachten die Schüler, es liege an ihnen.
Nun machen sie gegen die Ausbildungsmarktstatistik mobil.

Bremen (dpa) – Sara Scheibel und Dennis Quicker können sich an den 2.
November 2016 noch genau erinnern. Es war ein Mittwoch. Und die
Schülerin und der Schüler waren richtig sauer. Wegen ein paar Zahlen.
An diesem Tag veröffentlichte die Agentur für Arbeit in Bremen die
Ausbildungsbilanz 2016 für ihre Heimatstadt. Die zwei kämpfen mit
ihrer Klasse seit längerem für eine andere, wie sie finden ehrlichere
Statistik. Trotzdem: An der Art der Jahresbilanz hatte sich in
Scheibels und Quickers Augen überhaupt nichts geändert.

In der Pressemitteilung vom 2. November wirkt die Lage am
Ausbildungsmarkt in Bremen gut. 4011 Lehrstellen hatten Arbeitgeber
vom 1. Oktober 2015 bis zum 30. September angeboten. Dem standen 3415
Bewerber gegenüber. Kein Grund zur Klage, könnte man denken: Für
jeden Jugendlichen gab es rein rechnerisch mehr als eine
Ausbildungsstelle.

«Unversorgt», wie es im Behördendeutsch heißt, blieben nach den
Zahlen 174 Bewerber. Auch nicht so viele, könnte man meinen. Scheibel
und Quicker machen genau diese niedrigen Werte sauer: «Das ist
Augenwischerei», sagt die junge Frau mit den langen braunen Haaren.

Scheibel, 18 Jahre alt, und Quicker, 19, besuchen die Gesamtschule
Ost in Bremen-Tenever. Die Zahlen decken sich überhaupt nicht mit den
Erfahrungen der jungen Menschen. In ihrer Klasse wollten am Ende der
zehnten Klasse 12 von 24 Mädchen und Jungen eine Ausbildung machen.
An der Gesamtschule lernen Schüler unterschiedlicher Leistungsstärken
zusammen. In Scheibels und Quickers Klasse strebte ein Drittel das
Abi an, ein Drittel den mittleren Schulabschluss. Und ein Drittel
peilte die erweiterte Berufsausbildungsreife an – also das, was viele
noch als erweiterten Hauptschulabschluss kennen.

Nach Abschluss der zehnten Klasse hätten viele deshalb ins
Berufsleben starten wollen. «Am Ende hatten aber nur drei einen
Ausbildungsplatz», erzählt Scheibel. Einer lernt jetzt Elektriker,
einer Einzelhandelskaufmann und eine Verwaltungsfachangestellte. Der
Rest ging nach ihrer Aussage notgedrungen weiter zur Schule – oder
hing nach der Schule zunächst in Übergangsmaßnahmen fest.

Im Mai 2017 sitzen die beiden in einem Klassenraum ihrer
Gesamtschule. Es ist kurz nach 13 Uhr. Für heute ist der Unterricht
vorbei. Die letzten Schüler haben allerlei Müll hinterlassen. Auf den
Tischen liegen gefaltet Papierschiffchen, auf dem Boden
Süßigkeits-Verpackungen. Quicker, mit blonden kurzen Haaren und
Brille, erklärt: «Wenn in Bremen nur 174 Bewerber unversorgt sind,
müssten im Umkehrschluss ja 97 Prozent der Jugendlichen eine
Lehrstelle haben.» So lesen er – und viele andere – auf den ersten
Blick die Statistik.

Scheibel, schwarze Kleidung, roter Nagellack, sagt: «Als Schüler
denkt man dann: Das liegt an mir. Irgendwas muss ja nicht richtig
sein, wenn ich zu den wenigen gehöre in ganz Bremen, die keine
Ausbildung kriegen.»

Seit mittlerweile drei Jahren beschäftigen sich Scheibel, Quicker und
andere Schüler mit dem Thema Ausbildungsmarktstatistik. Unterstützt
werden sie von dem langjährigen Politiklehrer Hans-Wolfram Stein.
Inzwischen zweifeln sie nicht mehr an sich selbst. Sie halten
vielmehr die Kommunikation der Statistik für «falsch». Und sie haben
inzwischen zahlreiche Unterstützer.

STREIT UM DAS WORT «UNVERSORGT»

Die Schüler glauben, dass es viel mehr Jugendliche ohne
Ausbildungsplatz gibt, als es die Fokussierung auf die «unversorgten
Bewerber» in der Jahresbilanz nahelegt. «Unversorgt» sind in der
Statistik die Jugendlichen, die bei der Arbeitsagentur gemeldet sind,
eine Lehrstelle suchen und die zum Stichtag 30. September keinen
Lehrplatz und auch nichts anderes ergattern konnten.

Es gibt daneben eine weitere Gruppe, die ebenfalls eigentlich eine
Ausbildung sucht, zum Stichtag aber eine Alternative gefunden hat.
Das kann zum Beispiel ein Freiwilliges Soziales Jahr sein. «Diese
Zahl muss man auch kommunizieren», findet ihr Lehrer Stein. «Diese
Jugendlichen wollen eine Ausbildung, finden aber nichts und weichen
dann auf Alternativen aus.» In der Pressemitteilung der Agentur für
Arbeit Bremen vom 2. November werden sie nicht genannt.

Die Schüler fordern deshalb, in der Kommunikation zur
Ausbildungsmarktstatistik statt der «unversorgten Bewerber» die
sogenannte Einmündungsquote zu benutzen. Sie sagt, wie viele suchende
Jugendliche in eine Lehrstelle «eingemündet» sind – so die
Behördensprache. Mit diesem Wert liest sich die Statistik weniger
optimistisch: In Bremen haben nur rund 37 Prozent der jungen Leute,
die bei der Agentur als ausbildungsplatzsuchend gemeldet wurden, eine
Lehre gefunden. Nimmt man auch jene dazu, die ohne Hilfe der
Arbeitsagentur eine Stelle bekamen, sind es 66,5 Prozent.

ES ZÄHLT NUR MIT, WER REIF FÜR DIE LEHRE IST

Die Jugendlichen kritisieren weiter, was als «Bewerber» zählt. Viele
denken: Bewerber sind alle, die sich bei der Arbeitsagentur als
Suchende angemeldet haben. So ist es aber nicht. Bevor die Behörde
einen Jugendlichen als Bewerber führt, muss ein Berater ihn für
ausbildungsreif erklären. Hält der Fachmann ihn nicht für fit genug,
verordnet man ihm gegebenenfalls Fördermaßnahmen. Er taucht in der
Statistik als Bewerber dann gar nicht mehr auf. «Diese Jugendlichen
suchen aber ja auch einen Ausbildungsplatz», sagt Stein. Sie müsse
man mitzählen.

Die Schüler fordern deshalb, dass in den Daten auch aufgeführt wird,
wie viele Jugendliche zwar eine Lehre suchen, aber den Stempel «nicht
reif» bekommen haben. Dadurch werden sie in der Regel nicht in der
Statistik erfasst, so die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg.

Der Lehrer Hans-Wolfram Stein ist in Bremen kein Unbekannter. Seit
Jahren sorgt er dafür, dass sich Schüler aus dem Problemviertel
Bremen-Tenever in die Politik einmischen. Die Absenkung des
Wahlalters auf 16 Jahre bei den Landtagswahlen in dem kleinen
norddeutschen Bundesland ging auch auf einen Impuls von Steins
Schülern zurück.

Sie setzten sich auch dafür ein, dass die Kriterien zur Einbürgerung
von Menschen mit Doppelpass in Bremen ausgeweitet wurden. Dafür
bekamen Schüler von Stein 2013 den Hildegard-Hamm-Brücher-Förderpreis
für Demokratie lernen und erfahren. Das Thema
Ausbildungsmarktstatistik ist sein neuestes Projekt.

Stein ist bereits in Pension – doch an der Schule ist er weiter
aktiv. Er bietet nach wie vor Arbeitsgemeinschaften an. Er wirkt
dabei nicht wie ein jung gebliebener Pensionär. Tiefe Furchen prägen
sein Gesicht, die Haare sind ihm fast alle ausgegangen. Doch er ist
das Gegenteil eines alten Mannes: Wenn Stein schnellen Schrittes über
den Schulhof eilt oder in der Mensa mit lauter Stimme ein paar
Schüler um Ruhe bittet, ist von Altersmilde wenig zu spüren. Im
Gegenteil: Er ist es gewohnt, sich Respekt zu verschaffen.

Die Details der Ausbildungsmarktstatistik kann er enorm schnell
referieren. Fast scheint es, als habe er jetzt, mit über 60 Jahren,
keine Geduld mehr, das für ihn Offensichtliche langsam und mehrmals
zu erklären. Sein Engagement an der Schule: eine Herzenssache.

POLITIKLEHRER STEIN POLARISIERT

«Viele meiner Schüler wachsen in Elternhäusern auf, in denen es ganz
normal ist, nicht zu wählen», sagt er. Als Politiklehrer sehe er es
als seine Aufgabe, die Schüler zu mündigen Bürgern einer Demokratie
zu erziehen. Er will ihnen zeigen, dass jeder sich einmischen kann –
und jede Stimme gleich viel Wert ist.

Viele sehen das positiv. Als das Thema Ausbildungsmarktstatistik
unlängst in der Bremer Bürgerschaft – dem Landesparlament –
verhandelt wurde, sagte die dortige SPD-Vizefraktionschefin Sybille
Böschen zum Engagement von Stein und seiner Truppe: «So stellen wir
uns vernünftigen und guten Politikunterricht vor.» Aber es gibt auch
Kritiker. Einige warnen vor der Gefahr, dass der Lehrer den Kindern
politische Positionen eintrichtere. Scheibel und Quicker sehen das
anders: «Wir haben uns unsere Position selbst erarbeitet», sagen sie.

Doch zurück zu der Frage, ob an den Vorwürfen der Schüler beim Thema
Daten zur Lehre etwas dran ist. Anruf bei Joachim Gerd Ulrich,
Forscher beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und Experte auf
dem Gebiet Ausbildungsmarktstatistik. Sind die Angaben der
Arbeitsagentur falsch? «Nein», sagt Ulrich. «Die Zahlen sind korrekt.
Die Bundesagentur rechnet richtig, stellt alles richtig dar und
bemüht sich sehr um Transparenz.»

Eine andere Frage sei, ob die Werte von Dritten richtig interpretiert
würden. Und ob diese Interpretationen die Realität abbilden würden.
«Zu sagen, nur «unversorgte Bewerber» sind ohne Ausbildungsplatz, ist
definitiv zu eng», erläutert Ulrich.

DIE WERTE SIND NICHT GEHEIM

Ulrich macht klar, dass das Verständnis-Problem nicht nur in Bremen,
sondern auch auf Bundesebene auftauchen kann: Zum Stichtag 30.
September 2016 gab es bundesweit rund 20 000 unversorgte Bewerber.
Daneben seien rund 60 000 Suchende gemeldet gewesen, die in einer
Alternative geparkt waren, erläutert er. Die müsste man auch immer
nennen. Die Werte sind nicht geheim. Trotzdem gehen sie oft unter.

Die von den Jugendlichen geforderte Einmündungsquote sei zur
Beschreibung des Marktes eine unentbehrliche Ergänzung, sagt er. Sie
liegt für Deutschland, so der Berufsbildungsbericht, bei 64,7
Prozent.

Diese Position teilen längst nicht alle. «Aus unserer Sicht hat sich
die Ausbildungsmarktstatistik des Berufsbildungsberichts im
Wesentlichen bewährt», urteilt ein Sprecher der Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Er hält die Konzentration auf
die unversorgten Bewerber für richtig. Sein Argument: Die Bewerber
mit einer Alternative hätten eben eine Alternative.

ARBEITGEBER GEGEN ÄNDERUNG

Die von den Schülern geforderte Nennung der Einmündungsquote sieht
die BDA kritisch. Da sei die Aussagekraft zu hinterfragen. «Nicht
jeder, der nicht in einen Ausbildungsplatz eingemündet ist, sucht
noch aktiv nach einem Ausbildungsplatz», sagt der Sprecher. Und zum
Thema Reife heißt es: «Man muss doch realistisch einschätzen, ob
jemand eine Ausbildung schaffen kann. Wenn nicht, sollte er auch
nicht als Bewerber geführt werden.»

Unterstützung erhält die BDA vom Deutschen Industrie- und
Handelskammertag DIHK. «Man sollte sich wirklich auf die unversorgten
Bewerber konzentrieren», sagt Markus Kiss. Statistiken seien nie ein
genaues Abbild der Realität, es gebe immer graue Flecken.

Bei der Bundesagentur für Arbeit selbst ist das Bild gemischt.
Deutschlandweit wurden im November 2016 in der Pressemitteilung alle
Zahlen genannt: unversorgte Bewerber, Leute mit Alternative und
Einmündungsquote. Die Agenturen in den einzelnen Bundesländern
wählten zum selben Zeitpunkt in ihren Pressemitteilungen
unterschiedliche Wege. Sechs Agenturen nannten die Einmündungsquote –
die anderen nicht. Nach Angaben der Zentrale in Nürnberg liegt die
Entscheidung vor Ort. Vorgaben gebe es nicht.

Die Schüler in Bremen sind über die Darstellung jedenfalls weiter
enttäuscht. «Wir würden uns wünschen, dass die Statistik deutlich
macht, wer einen Ausbildungsplatz hat und wer nicht», sagt Scheibel.

INITIATIVE IM BUNDESRAT FÜR MEHR TRANSPARENZ

Eine Forderung, die zumindest in Bremen mittlerweile prominente
Unterstützer fand. Im Mai 2016 beschloss die Bürgerschaft, dass die
Landesregierung die Entwicklungen auf dem regionalen Ausbildungsmarkt
künftig transparent darstellen solle. Trotzdem kamen im November die
neuen Zahlen der Arbeitsagentur in alter Manier heraus.

Die beiden Regierungspartner Grüne und SPD haben nun einen Antrag in
der Bürgerschaft eingebracht, in dem sie von der Landesregierung als
letzten Schritt eine Bundesratsinitiative fordern. Die Statistik
müsse im ganzen Land geändert werden, um aussagefähigere Daten zu
erhalten. Nur so gebe es mehr Transparenz.

Eine Idee, die Martin Günthner, Bremer Senator für Wirtschaft, Arbeit
und Häfen, unterstützt: «Ich finde die Bundesratsinitiative für mehr
Transparenz in der Statistik richtig», sagte er der dpa. «Am Ende ist
niemanden damit gedient, wenn am Ende alle wissen, die Probleme am
Ausbildungsmarkt sind eigentlich größer, aber wir haben es durch
allerlei Zahlenspielereien hinbekommen, das Problem kleiner zu
machen.»

Es bleibt abzuwarten, was daraus wird. Einen Effekt auf die Schüler
hat die Debatte schon jetzt. «Es macht Mut, dass wir so viel erreicht
haben und es macht Mut, dass Schüler so etwas erreichen können», sagt
Sara Scheibel. Wenn junge Leute von der Gesamtschule Bremen-Ost sich
so in die Politik einmischen könnten, hätten auch Schüler anderswo
diese Chance. Wenn sie Lust darauf haben, sagt sie: «Die Politiker
haben uns Recht gegeben – und das ist schon etwas Besonderes.»

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