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«Das ganze Leben ist Tod» – Warum Syrer Kinder nach Europa schicken Von Anne-Beatrice Clasmann

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Wenn ein syrisches Flüchtlingskind ohne Eltern in Deutschland
ankommt, lasten auf ihm oft die Hoffnungen einer ganzen Familie. Wie
bei den Abu Kaschifs. dpa hat Angehörige der Familie getroffen – in
einem türkischen Flüchtlingslager und im niedersächsischen
Drochtersen.

Nizip/Drochtersen (dpa) – Gepflasterte, saubere Gassen, ein
Schulgebäude in Fertigbauweise, Stacheldraht: Nizip I ist das
Fünf-Sterne-Hotel unter den Flüchtlingslagern in der Türkei. Hier
stehen robuste Wohncontainer, und nicht Zelte, in die bei Regen der
Schlamm hinein schwappt. Auch wenn sich in dem kleinen Schulgebäude
50 Kinder in einem Raum drängeln – immerhin gibt es Unterricht. Wenn
Delegationen aus Europa sehen wollen, wie die rund drei Millionen
syrischen Flüchtlinge in der Türkei leben, führt man sie gerne ins
Lager Nizip I, das in der südöstlichen Provinz Gaziantep liegt. 

An diesem Tag ist der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU)
zu Gast. Er plaudert mit syrischen Schülerinnen. Die Teenager
lächeln, teils etwas schüchtern. Eine von ihnen jedoch schaut ernst.
Sie presst die Lippen zusammen, kämpft mit den Tränen. Safa Abu
Kaschif (14), lange Bluse, grau gesprenkeltes Kopftuch, nimmt allen
Mut zusammen und drängt sich neben den Minister. Ein Wortschwall
bricht aus ihr heraus: «Meine kleine Schwester Hala, in Deutschland,
Stade, mit meinem Bruder, Hala weint immer, sie vermisst unsere
Mutter, schon über ein Jahr, niemand hilft.» 

Die Übersetzerin, die Müller begleitet, hat alle Mühe, die Gedanken
des Mädchens zu sortieren und vorzutragen. Schließlich versteht der
Minister, dass Safa nach Deutschland will, wo einige
ihrer Geschwister als Flüchtlinge leben. Der Minister bittet einen
Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Ankara, sich um den Fall zu
kümmern. Dann zieht er weiter und hört einer Großmutter zu, die ihm
von Krieg und Flucht erzählt.

Safa läuft zu dem Container, der seit vier Jahren ihr Zuhause ist.
Aufgeregt berichtet sie dem Vater von ihrem Treffen mit dem Mann aus
Deutschland. Chalid Abu Kaschif (52) ruft seinen Sohn Hussein an. Der
21-Jährige wohnt rund 3500 Kilometer entfernt: Der Name der
norddeutschen Gemeinde Drochtersen, in der Hussein seit einigen
Monaten lebt, ist für den Vater unaussprechlich. Doch er weiß, der
Ort liegt in der Nähe einer Stadt, die Stade heißt. 

ANKOMMEN DAUERT LANGE

Husseins Asylantrag ist positiv entschieden worden. Im
vergangenen Februar hat er eine Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre
erhalten. Damit holte er seine Frau Nadia (20) zu sich, die sich mit
ihrem Baby ins griechische Flüchtlingslager Nea Kavala
durchgeschlagen hatte. Das Kind der zwei, Chalid, ist nach dem
Großvater benannt, so will es die Tradition. Als er seinen Vater das
erste Mal sah, war der Junge schon fast ein Jahr alt.

In der Wohnung, die die Eltern in Drochtersen bezogen haben, läuft
der Junge aufgeregt hin und her. Mit einem Teppich, zwei Sofas, zwei
Sesseln, einem Tisch und einer Schrankwand ist das Wohnzimmer der Abu
Kaschifs zweckmäßig, ordentlich, aber auch unpersönlich eingerichtet.
Die Wände sind kahl. Hier leben Menschen, die noch nicht richtig
angekommen sind. Die Abu Kaschifs kämpfen mit der neuen Sprache,
kümmern sich um Chalid und Hala (8). Arbeiten geht noch niemand. 

«Hala und ich sprechen jeden Tag mit der Familie in der Türkei», sagt
Hussein. Oft sind die Nachrichten schlecht. Im vergangenen Jahr starb
der Großvater in Syrien, als sein Haus, das im Rebellengebiet lag,
bei einem Luftangriff zerstört wurde. Ein russisches Flugzeug soll
die Rakete abgefeuert haben. Einen Tag vor unserem Besuch erfuhr
Nadia vom gewaltsamen Tod eines Cousins. Aus Syrien kämen nie gute
Nachrichten, sagt Hussein: «Das ganze Leben ist Tod.»

Hussein hat früh gelernt, Verantwortung zu tragen. Der Vater hatte
sich bei der Arbeit als Bauarbeiter im Libanon den Rücken ruiniert.
Deshalb musste sein einziger Sohn in Syrien schon als 15-Jähriger
neben der Schule Baumwolle ernten und Weizen säen. 

2000 EURO AN DIE SCHLEPPER GEZAHLT

Hussein selbst kann seine Eltern, Safa und die anderen
Geschwister nicht nach Deutschland holen. Das darf, so steht es im
Gesetz, nur seine kleine Schwester. Denn Hala ist minderjährig. Sie
war sieben, als sie mit ihrem Bruder über die sogenannte Balkanroute
nach Deutschland kam. Erst ging es in die türkische Hafenstadt Izmir.
Dann setzten sie mit einem Schlepperboot über nach Griechenland,
marschierten lange zu Fuß, schlugen sich durch über Ungarn bis zur
deutschen Grenze. Die rund einmonatige Reise habe sie 2150 US-Dollar
(rund 2000 Euro) gekostet, sagt Hussein Abu Kaschif.

Das Geschwisterpaar kam mit sieben weiteren Verwandten in Deutschland
an, darunter ein Onkel, ein Schwager und eine Nichte. Sie waren wohl
mit dem Auftrag losgeschickt worden, das Nachholen der restlichen
Angehörigen der Großfamilie zu organisieren. Anders lässt sich
kaum erklären, weshalb Husseins Schwager Masen nicht eines seiner
eigenen drei Kinder mitnahm, sondern Hanin (7). Sie ist die Tochter
seines Bruders, der mit einer anderen von Husseins insgesamt elf
Schwestern verheiratet ist.

Denn nun kann Masen für seine Frau und seine Kinder einen Antrag auf
Familienzusammenführung stellen. Und ein Vormund kann im Namen der
minderjährigen Hanin dafür sorgen, dass deren Eltern mit den zwei
Brüdern kommen dürfen. Wann das geschehen wird, weiß aber niemand.
Denn Hanin hat noch keinen Termin bei der zentralen Behörde gehabt,
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Die Frage, warum er Hala auf den beschwerlichen Weg nach Deutschland
mitgenommen habe, ist Hussein Abu Kaschif etwas unangenehm. Er sagt,
ihr leicht verkrümmter linker Fuß – ein Geburtsfehler – könne hier
besser behandelt werden. Außerdem könne Hala ja die Familie holen.
Sein Redefluss bricht ab. Auch die Experten der Hilfsorganisation
sprechen ungerne darüber, dass es oft eben auch eine strategische
Familienentscheidung ist, die Jüngeren auf die Reise zu schicken,
weil die Gesetze in Europa halt so sind, wie sie sind.

Husseins große Schwester Fatima (26) wusste, dass sie es selbst
schaffen muss. Ihr Mann war im Krieg gefallen. Deshalb zog sie mit
ihren zwei Kindern Sara und Hussein im vergangenen Februar auf eigene
Faust los. «Ich wollte nicht in Nizip bleiben», sagt die schmale
Frau. «Dort gibt es keine Bäume, keine Kultur.» 

14 ANGEHÖRIGE DER FAMILIE SIND IN DEUTSCHLAND 

Sie hatte in Damaskus Englische Literatur studiert, als 2011 erst der
Aufstand gegen Präsident Baschar al-Assad und dann der Krieg begann.
Der kleine Hussein war ein Jahr alt, als die Witwe 2012 hochschwanger
auf einen überfüllten Lastwagen stieg, der sie zur türkischen Grenze
brachte. Sara kam in einem Krankenhaus in der türkischen Stadt
Gaziantep zur Welt. Erst hoffte die Mutter auf eine baldige Rückkehr
in die Heimat. Dann eroberte die Terrormiliz Islamischer Staat (IS)
ganze Städte. Russland schickte Soldaten los, um Assads Sturz zu
verhindern. Die Hoffnung schwand.

Bis heute sind 14 Angehörige der Familie Abu Kaschif in Deutschland
eingetroffen. Inklusive Ehegatten warten in der Türkei
noch 17 Familienmitglieder auf eine Reiseerlaubnis. Nur eine der elf
Töchter von Chalid Abu Kaschif will mit ihrem Mann in der Türkei
bleiben. Hussein Abu Kaschif sagt: «Wir haben Deutschland ausgewählt,
weil Deutschland gesagt hat, es will, dass die Flüchtlinge kommen.
Das ist schließlich etwas anderes, wenn mich jemand einlädt, als
irgendwo hinzugehen, wo man mich vielleicht gar nicht will.»

Wie die rund 11 000 Einwohner von Drochtersen über die 138
Flüchtlinge denken, die unter ihnen leben, wissen die Abu Kaschifs
nicht. Von einer Protestaktion gegen Flüchtlinge in der
Nachbargemeinde Wischhafen 2015 hat ihnen niemand erzählt.
Der Kontakt der erwachsenen Abu Kaschifs zu Deutschen beschränkt sich
bislang vor allem auf Rechtsanwälte, Behördenvertreter und
verschiedene Helfer. 

Hala schläft nachts nicht gut. Sie vermisst ihre Mutter. Manchmal
zieht ein Schatten über Halas Gesicht. Sie sagt: «Ich will zurück in
die Türkei, ich will zurück zu Mama.» Doch das ist fast unmöglich.
Hala hat keinen Pass. Ob die Türkei ihr die Einreise erlauben würde,
ist fraglich. Ihre große Schwester Nura, die es im Frühjahr von Nizip
bis in ein griechisches Lager geschafft hatte, kehrte nur mit Hilfe
von Schleppern in die Türkei zurück, nachdem sie feststellen musste,
dass der Weg nach Deutschland jetzt versperrt ist. 

Ob und wann es mit dem Familiennachzug von Halas Eltern funktionieren
wird, ist offen. Immerhin: Vor kurzem kam der Bescheid, dass Hala –
acht Monate nachdem ein Rechtsanwalt für sie einen Asylantrag
gestellt hatte – als Flüchtling anerkannt ist. Damit gehört sie zu
den rund 3900 unbegleiteten Minderjährigen, die seit Jahresbeginn als
Flüchtling anerkannt wurden. Etwa 1700 Jungen und Mädchen erhielten
nur den sogenannten subsidiären Schutz. Sie dürfen erst mit einer
zweijährigen Verzögerung einen Antrag auf Nachzug der Eltern stellen
– und auch nur, wenn sie dann nicht schon volljährig sind.

Warum die große Koalition beim Familiennachzug auf die Bremse tritt,
dazu hört man unterschiedliche Theorien – von den Mitarbeitern der
Wohlfahrtsverbände, auf den Ausländerämtern und unter Diplomaten. Die
einen sagen, diese seit März geltende Einschränkung sei notwendig
gewesen, um den Behörden eine Atempause bei der Registrierung,
Verteilung und Versorgung der Schutzsuchenden zu verschaffen. Andere
verweisen auf die 2017 anstehende Bundestagswahl und auf die AfD, die
mit Anti-Asyl-Parolen zuletzt erfolgreich Wahlkämpfe bestritten hat.

Die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion,
Luise Amtsberg, wirft der Bundesregierung vor, sie reiße mit ihrer
Politik Familien auseinander. Sie sagt: «Unbegleitete Minderjährige
werden von den Einschränkungen des Familiennachzugs besonders
getroffen: Ein mögliches Nachzugsrecht der Eltern erlischt mit dem
Vollenden des achtzehnten Lebensjahres.»

VIELE VERWANDTE HABEN KEINE PÄSSE

Halas Familie fragt sich, ob ihr positiver Asylbescheid wohl damit zu
tun hat, dass Safa mit dem Entwicklungsminister gesprochen hatte.
«Die durchschnittliche Verfahrensdauer bei unbegleiteten
Minderjährigen liegt aktuell bundesweit bei 7,7 Monaten», erläutert
eine BAMF-Sprecherin.

Auch wenn sie sich alle sehr über die Aufenthaltserlaubnis für
Hala gefreut haben, die Probleme der Familie Abu Kaschif sind damit
noch nicht aus dem Weg geräumt. Denn die meisten Familienmitglieder
haben keine Pässe. Um diese zu beschaffen, bräuchte die Familie viel
Geld, sagt Hussein Abu Kaschif, für Gebühren und für
Bestechungsgelder. «Die Preise ändern sich von Woche zu Woche», sagt
er. Er schätzt, dass es 6500 US-Dollar kosten würde, Reisedokumente
für alle zu organisieren. Geld, das die Familie nicht hat.

Hussein Abu Kaschif wirkt verloren, wenn er durch die von roten
Backsteinhäusern gesäumten Straßen von Drochtersen geht, um Hala von
der Schule abzuholen. Der Ort sieht proper aus, auch wenn einige
Gebäude leer stehen. Die Frau in der Immobilienagentur, die
der Familie bei der Wohnungssuche half, winkt Hussein Abu Kaschif zu.

«Mir gefällt, dass in Deutschland alle Menschen gleich behandelt
werden, das ist anders als in den arabischen Gesellschaften oder in
der Türkei», sagt er. Was er in Deutschland merkwürdig findet, ist
diese Ruhe überall: «Es gibt praktisch kein gesellschaftliches
Leben.» 

Als der Syrer an der Grundschule ankommt, sind Hala und Hanin noch
beim Mittagessen. Er wartet. Dann kommen die zwei Mädchen aus dem
Flachdach-Gebäude gestürmt. Hanin holt ihr pinkfarbenes Fahrrad. Hala
zieht ihr Bein nach. Auf dem Heimweg zeigt Hanin auf ein Werbeschild
für einen Weihnachtsbaum-Verkauf. Die Mädchen diskutieren, was die
Deutschen an Weihnachten genau machen. 

SCHULE FÖRDERT WISSEN ÜBER DIE NEUE KULTUR

Wenn Hala von der Schule erzählt, leuchten ihre Augen. Sie geht in
die 2. Klasse. Sie spricht flüssig und ohne Scheu Deutsch. Sie hat
viel Spaß, wenn ein Kind aus der Klasse Geburtstag feiert. «Dann gibt
das Geburtstagskind etwas aus, Kuchen oder so», sagt sie. Zu Hause
springt Hala vom Sessel. Gemeinsam mit Hanin singt sie: «Heute kann
es regnen, stürmen oder schnei’n, denn du strahlst ja selber wie ein
Sonnenschein. Heut‘ ist dein Geburtstag, darum feiern wir.» 

Fatima Abu Kaschif kann nur einfache Sätze auf Deutsch bilden. Meist
behilft sich die schmale junge Frau mit Englisch. Mit Bedauern
spricht sie von dem Studium in Damaskus, das sie nicht abschließen
konnte. Wie ihr Mann starb, weiß sie nicht, nur dass er in der Stadt
Latakia getötet wurde.  

Dass Drochtersen eine kleine Gemeinde ist, stört ihren Bruder Hussein
nicht. Schließlich kommen die Abu Kaschifs selbst aus einem Dorf in
der Provinz Idlib. Trotzdem überlegt er, später einmal umzuziehen in
eine Stadt. Nach Buxtehude, zwischen Stade und Hamburg: «Weil es da
Geschäfte gibt, die arabisches Brot verkaufen und Fleisch von Tieren,
die nach den islamischen Vorschriften geschlachtet worden sind.» Wann
dieser Umzug stattfinden soll? Er seufzt. «Wenn die Familie zusammen
ist, wenn alle endlich da sind.»

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