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Berlin, wo es rau und ungebürstet ist

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Berlin, wo es rau und ungebürstet ist
Von Matthias Bolsinger (Text) und Sophia Kembowski (Foto), dpa

Bierflasche und Sektglas, Kriminelle und Kreative, Hippies und
Hipster: Auf der Berliner RAW-Partymeile krachen Gegensätze
aufeinander. Ausrasten gilt als ultimativer Spaß – oder Nervtöter.
Eine Nacht dort verrät mehr über die Hauptstadt als mancher Besuch am
Brandenburger Tor.

Berlin (dpa) – Heute soll’s mal wieder richtig krachen. Fünf Männer
in sogenannten Hotrods, offenen Mini-Autos, brettern los. Es ist ein
schwüler Samstagabend auf dem RAW-Gelände in Berlin. Sie düsen über
alte Schienen und den rissigen Betonboden auf der größten Partymeile
der Hauptstadt. Die Motoren heulen auf, als die Fahrer durch eine
Lücke in der Mauer steuern, die das Gelände umgibt.

Direkt an dieser Lücke wohnt Carola Ludwig. Der Lärm der Hotrods, das
Wummern der Musik, das Gemurmel der Menschenströme auf dem Areal im
Stadtteil Friedrichshain dringen durch ihr offenes Fenster. Sie könne
kaum schlafen, sagt die 55-Jährige. In einer Ecke des Wohnzimmers
steht ein Schild. «Pssst! No loud tourists» – keine lauten Touristen.

Die Spaßgemeinde unten kann dieses Schild nicht sehen. Vermutlich
würde es sie auch nicht interessieren. Den 25-jährigen Chris etwa. Er
trägt ein pinkes Röckchen, Plastikkrone und eine Flasche Schnaps. Er
lacht. Etwa zehn Kumpels, ebenfalls in Pink, sind bei ihm. Der Däne
heiratet bald, es ist sein Junggesellenabschied. Dafür will die
Gruppe «crazy people» treffen: die Verrückten von Berlin. Jetzt, um
1.30 Uhr, sind die Männer hier, zwischen den mit Graffiti besprühten
früheren Bahn-Gebäuden, alten Gleisen und bunten Lichtern. Die Luft
riecht nach Pommes, Zigaretten und Joints.

Das RAW-Gelände in Friedrichshain: Abenteuerspielplatz für alle, die
nicht an morgen denken wollen. Einmal hin, ausrasten, tschüs. Für
Touristen und andere wird die Stadt zur Kulisse für den Exzess. Wo
genau man trinkt, ist egal. Dabei hat das RAW-Gelände mehr Potenzial.

Es könnte einer der letzten Orte sein, an dem Berlin anders bleibt
als sonstige hochgestylte Metropolen. Rauer, improvisierter,
kreativer. Orte wie das RAW sind auch Kampfschauplätze. Hier zeigt
sich, wer die Stadt am Ende gestalten darf.

Auf rund 70 000 Quadratmetern verteilen sich die Hallen, Mauern und
Freiflächen des ehemaligen Reichsbahn-Ausbesserungswerks. Zehn
Fußballfelder groß. Clubs, Bars und Restaurants versprechen
Unterhaltung und schlaflose Nächte. Eine Kletter- und eine
Skatehalle, Ateliers und Proberäume locken Bewegungsfans und
Künstler. Es ist dreckig, wild, unfertig: ein Berlin, wie es in den
vergangenen Jahrzehnten Menschen weltweit in den Bann zog.

Doch die wachsende Millionenmetropole hat sich längst gewandelt.
Nicht nur durch Edel-Sanierung und Touristenmassen. Mit dem Wandel
verschärfen sich bestimmte Konflikte: Besucher gegen Einwohner,
Investoren gegen Kulturschaffende, Polizisten gegen Drogenhändler.

Genau das prägt auch das RAW-Gelände. Es sind die Konflikte einer
Hauptstadt, die sich seit Jahren drängenden Fragen stellen müsste, es
aber nur bedingt tut. Wie soll man in Zukunft leben? Wie lässt sich
eine gemeinsame Vision entwickeln? Wer eine Nacht mit dem Partyvolk
mittanzt, spürt, wie weit entfernt man von einer Antwort ist.

16 Uhr: Berlin gleicht Ende August einem Backofen mit fast dreißig
Grad. Schwitzende Leute flanieren auf der Warschauer Brücke, von wo
das RAW-Gelände jenseits der Bahngleise zu sehen ist. Es geht vorbei
an einer Fotokabine und Imbissbuden über eine Treppe aufs Areal.

17 Uhr: Ein breiter Boulevard, mal Asphalt, mal Kopfsteinpflaster,
führt über das Gelände. Darauf verteilt alte, teils verfallene
Backsteingebäude. Vor einem ehemaligen Verwaltungsbau sitzt Julia
Oppenauer. «Willkommen in unserem Wohnzimmer», sagt sie. Sie trägt
Bikini und Sonnenbrille, ihre Füße baumeln in einem aufblasbaren
Pool. Oppenauer ist Vorsitzende des Vereins RAW//cc e.V., der die
Kulturschaffenden vertritt. Sie nutzen vier denkmalgeschützte
Gebäude. Maler, Musiker, ein Kinderzirkus. Oppenauer sagt: «Wir
wollen das RAW als soziokulturelles Zentrum erhalten.»

Die Kurth Gruppe aus dem niedersächsischen Göttingen hat rund drei
Viertel der Fläche 2015 gekauft. Sie präsentiert sich als
Familienunternehmen, das nicht auf schnellen Profit aus ist. Das RAW
solle behutsam entwickelt werden. Manche Nutzer sind misstrauisch.
Sie würden dem Investor ihre Teile gerne abkaufen – über eine
Stiftung. Geschäftsführer Lauritz Kurth dagegen plant auf freien
Flächen Bürogebäude. Gleichzeitig betont er, Kunst und Soziales
erhalten zu wollen. «Das Gelände kann sich entwickeln und verändern,
ohne jedoch seine DNA zu verlieren», sagt Kurth. Ein Runder Tisch
soll helfen, die Differenzen zu entschärfen.

18 Uhr: Julia Oppenauer blickt auf das Plastikbecken. «Das hier ist
unsere Gegenveranstaltung», sagt sie und grinst. Die andere
Veranstaltung läuft gleich gegenüber: im «Haubentaucher». Hinter den
Mauern einer ehemaligen Wartungshalle erstreckt sich eine elegante
Badelandschaft. Das Schwimmbad misst 240 Quadratmeter. An sonnigen
Tagen räkeln sich Menschen auf Liegestühlen und trinken Cocktails.
Die Betreiber sagen, sie vereinen raue Urbanität mit Leichtigkeit.

Viele RAW-Urgesteine mögen den «Haubentaucher» nicht. Er ist das
sichtbarste Zeichen einer Zeitenwende: Das Hippie-Gelände ist zum
Hipster-Treffpunkt geworden. Im «Haubentaucher» wird Abgerocktes auf
Saint-Tropez getrimmt. Auf Sektglas statt Bierflasche.

19 Uhr: Victor Javier Alaluf steht auf einer Leiter und fischt einen
Karton aus einem Regal. Darin: ein vergoldeter Schädel, umrahmt von
Schmetterlingen. Die Nadeln zum Befestigen der Falter steckten einst
in seinem Körper, als er wegen Leukämie behandelt wurde. Alaluf kommt
aus Argentinien, großgewachsen, kahles Haupt. Seine Skulpturen
erzählen von Zerbrechlichkeit. Er schafft sie in seinem Atelier im
sogenannten Beamtenwohnhaus. Manchmal, wenn der wöchentliche
Flohmarkt auf dem Gelände vorbei ist, sammelt er, was liegen blieb:
Stühle, Holz, alles. «Für die Leute ist das Müll. Für mich ist es ein
Schatz», sagt er. Die Künstler finden, dass sie von der Stadt nehmen
– und ihr etwas zurückgeben. Nur: Wie lange wird es noch so bleiben?

20 Uhr: Dietmar Winkler war einer der ersten, der Farbe auf das
RAW-Gelände brachte. Er sitzt ein Stockwerk über Alaluf im Atelier
und erzählt von damals, 1999, als die Kreativen ihre Kunstprojekte
ansiedelten. «Es war leer hier, grau, die Fenster waren eingeworfen»,
sagt Winkler. Heute nerven ihn die vielen Partygäste und deren
«übertriebene Art, die Sau rauszulassen». Trotzdem glaubt er: «In den
aktuellen Eigentümern haben wir Gesprächspartner.»

22 Uhr: Carola Ludwig schenkt Tee ein, Sorte «Kein Stress». Als ob
das so einfach wäre, Tee trinken und entspannen. Sie sagt: «Der Lärm
macht mich krank.» Seit 20 Jahren wohnt Ludwig im dritten Stock eines
Hauses an der Revaler Straße am RAW-Gelände. Ludwig engagierte sich
vom ersten Tag an für das Areal. Nun ärgert sie sich über Menschen,
die sich in ihrem Kiez so verhalten, als wäre er Disneyland. Seit
Jahren ist sie in einer Anwohnerinitiative aktiv. Politiker hätten
Hilfe zugesagt. Passiert sei: Nichts.

23 Uhr: Ludwig blickt aus dem Fenster. Zwei Männer lehnen an der
Mauer ihres Hauses. Drogendealer. Manchmal stünden etwa 60 von ihnen
rund um das Areal, behauptet Ludwigs Initiative. In den vergangenen
Jahren war das RAW häufig durch Kriminalität in den Schlagzeilen. Als
«rechtsfreier Raum», mitten in der Hauptstadt. Die Polizei hielt
fest, dass sich die Zahl der Drogendelikte dort etwa verdreifacht
hat. Auch die Gewalttaten nahmen zu. Die Freiheit, in der sich Teile
Berlins entwickeln konnten, ist zum Problem geworden.

0 Uhr: Mehr als 40 000 Euro investiert die Kurth Gruppe, wie sie
sagt, in bessere Beleuchtung, Video und einen Sicherheitsdienst. Der
patrouilliert seit März. Dass die Kriminalität 2016 bisher leicht
zurückgegangen ist, liegt wohl auch an ihm. Heute sei wieder eine
verhältnismäßig entspannte Nacht, bestätigt ein Wachmann.

1 Uhr: Immer noch strömen Menschen aufs Gelände, die Bars füllen
sich. Die Schlangen vor den Clubs wachsen. Junge Frauen drängen sich
in einer zur Mini-Diskothek umgebauten Telefonzelle und singen «I
Wanna Dance With Somebody». Zwei Männer sagen, sie wollten richtig
high werden.

3 Uhr: Im «Cassiopeia», einem der ältesten RAW-Clubs, tanzen viele zu
Hip-Hop. Woanders dröhnen Techno, Drum and Bass, Reggae aus den
Lokalen. Für Lutz Leichsenring, Sprecher der Berliner Clubcommission,
ist das Gelände «eines der Epizentren» des Nachtlebens. Vor dem
Eingang des «Cassiopeia» steht Mick, der seinen echten Namen nicht
preisgeben will. Mick ist Türsteher. Die Sicherheitsdebatte hält er
für übertrieben. Es sei doch klar, dass die Leute hier ausrasten
wollten. «Unter der Oberfläche sind Menschen einfach Tiere.»

5 Uhr: Partygänger wanken in Richtung S- und U-Bahn. Die Polizei wird
von einer Nacht ohne Zwischenfälle sprechen. In wenigen Stunden wird
hier der Flohmarkt beginnen. Künstler Victor Alaluf wird danach
wieder Reste auflesen. Skater und Kletterer werden tagsüber ihren
Spaß suchen. Abends werden Musik und Alkohol wieder das Kommando
übernehmen. Die Ruhe ist selten zu Gast.

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