Schläge, sexueller Missbrauch, seelische Gewalt. In den vergangenen
Jahren kam das tausendfache Leiden von Heimkindern in der
Nachkriegszeit ans Licht. Doch gab es auch massenhaft
Medikamentenversuche.
Berlin (dpa) – Ralf Aust erinnert sich noch daran, dass es Probleme
in der Schule gab. Mit elf Jahren kam er dann nach Essen ins Heim.
Die Eltern durften ihn zwei Stunden im Monat sehen. Über 50 Jahre
später schwingen bei dem 63-Jährigen Wut und Verbitterung mit. Er hat
viel geweint damals – geweint und gebrüllt, wie viele andere Kinder
auch.
«Nach dem Mittagessen mussten wir uns hintereinander aufstellen, die
Hand aufhalten und bekamen eine Tablette. Die mussten wir schlucken
und hinterher den Mund aufmachen und zeigen, dass sie weg ist.» Bei
Kindern, die sich weigerten, habe die Schwester mit ihrem Finger
nachgeholfen, bis in den Rachen. Anschließend war Ruhe. Mit dem Kopf
auf verschränkten Armen auf dem Tisch seien sie eingeschlafen. Ob er
im Essener Franz Sales Haus Versuchsobjekt von Medikamententests war
– er weiß es nicht.
Die Arzneimittelforscherin Sylvia Wagner hatte mit der
Veröffentlichung von ersten Ergebnissen ihrer Studie zu
Medikamententests am Heimkindern in den 50er und 60er Jahren
ungläubiges Entsetzen ausgelöst. Schläge, Drangsalierungen, sexueller
Missbrauch – eigentlich hätte man nach der historischen Aufarbeitung
durch den Runden Tisch Heimerziehung 2010 annehmen können, das
Schlimmste zu wissen.
Wagner hat nach eigenen Angaben Belege für bundesweit rund 50
Versuchsreihen an Heimkindern gefunden. Sie geht davon aus, dass
wahrscheinlich Tausende Säuglinge, Kinder und Jugendliche als
Versuchsobjekte für bis dahin unerprobte Medikamente herhalten
mussten – etwa wie 1960 die 139 Säuglinge, Kinder und Jugendliche im
Westberliner Elisabethstift für einen Impfstoff gegen Kinderlähmung.
Oder für Tests mit Medikamenten, die den Sexualtrieb hemmten, und mit
Psychopharmaka wie dem beruhigenden Decentan.
Allein mit Decentan hatte es laut Wagner Tests in
Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bayern,
gegeben. Für sie ist das alles nur die Spitze des Eisbergs. «Ich
stoße auf immer neue Studien für Medikamententests. Denen kann ich
gar nicht alle nachgehen», sagt die Wissenschaftlerin. Sie ist
erstaunt, wie offen in Fachzeitschriften vor allem über Impfversuche
an Heimkindern berichtet wurde.
Für Pädagogik-Professor Christian Schrapper zeigen sich darin
Auswirkungen der Nazi-Zeit. In den «Fürsorgeanstalten» der 50er und
60er Jahre habe man den Geist nationalsozialistisch geprägter
Vorstellungen über Minderwertigkeit wiedergefunden. Daraus ergebe
sich das Verständnis von Heimkindern als «Menschenmaterial, was für
medizinische Versuche genutzt werden kann».
Laut Arzneimittelforscherin Wagner gab es in den 50er und 60er Jahren
für die Durchführung von Pharmastudien in Westdeutschland keine
rechtsverbindlichen und sanktionierbaren Vorschriften. Bis zur
Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes 1978 wurden demnach Studien
zum Nachweis der Sicherheit von Firmen nur in eigenem Interesse
durchgeführt.
Der Pharmakonzern Merck hatte bei Bekanntwerden von Wagners Studie
mitgeteilt, man habe damals unterschiedlichsten Einrichtungen die
Testung des Neuroleptikum Decentan ermöglicht. Die Verantwortung
liege bei dem Arzt, der das Medikament verabreicht habe. Der Konzern
mit Sitz in Darmstadt hatte die Wissenschaftlerin in sein Archiv
gelassen, wo sie die bisher einzigen 28 Nachnamen von Versuchskinder
im Essener Franz Sales Haus fand. Trotzdem hat das Haus bisher nur
einen ausfindig machen können.
Ralf Aust hat nach seiner Entlassung aus dem Heim ein normales Leben
gelebt, sagt er. Mit den Berichten über die Studie holen ihn die
Ereignisse von damals wieder ein. «Das soll nie wieder passieren»,
sagt er. Darum erzählt er in aller Öffentlichkeit von sich.