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«Verlorene Generation»: Syriens Kriegskinder und der Wunsch an Merkel

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Kanzlerin Merkel hat sich in die Türkei ein Bild von der Lage der
syrischen Flüchtlinge gemacht. Zu deren größten Sorgen gehört der
Schulbesuch ihrer Kinder. Schuldirektorin Mona al-Hadsch weiß genau,
was sie sich wünschen würde, hätte sie einen Wunsch bei Merkel frei.

Gaziantep (dpa) – Die einst graue Mauer an der Flüchtlingsschule in
der südosttürkischen Stadt Gaziantep ist jetzt bunt, die syrischen
Schüler haben sie mit Bildern von Häusern und Kindern bemalt. Nur wer
genau hinschaut sieht, dass die Motive nicht so fröhlich sind, wie
die warmen Farben vermuten lassen: Auf vielen der Bilder weinen die
Kinder. «Weil die meisten von uns Waisen sind», erklärt die
13-jährige Rowan ganz sachlich. Der Krieg im nahen Syrien ist
allgegenwärtig in Gaziantep, wo sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am
Samstag ein Bild von der Lage der Flüchtlinge gemacht hat.

Merkel gehört zu den Architekten des Flüchtlingspakts der EU mit
Ankara. Damit möglichst viele Syrer gar nicht erst den Weg nach
Europa antreten, sollen ihre Lebensbedingungen in der Türkei
verbessert werden. Die EU will das mit zunächst drei Milliarden Euro
unterstützen. Zu den größten Sorgen der oftmals gut ausgebildeten
Flüchtlinge gehört, dass viele ihrer Kinder nicht zur Schule gehen
können. Merkel sagt bei ihrem Besuch, die EU müsse sich engagieren,
«damit alle Kinder eine Schulausbildung bekommen können».

Das UN-Kinderhilfswerk Unicef warnt vor einer ganzen «verlorenen
Generation» wegen des Bürgerkrieges in Syrien. Nach offiziellen
Angaben besuchen nur die Hälfte der rund 650 000 syrischen Kinder in
der Türkei eine Schule. Noch in diesem Jahr solle allen der
Schulbesuch ermöglicht werden, hat die Regierung versprochen. Die
Direktorin an Rowas syrischer Schule bezweifelt aber, dass das
gelingen kann. «Das Problem ist nicht der Staat», sagt Mona
al-Hadsch. «Viele Familien können ihre Kinder nicht zur Schule
schicken, weil die Kinder arbeiten müssen, um Geld zu verdienen.»

290 Schüler hat Al-Hadschs Schule mit dem optimistischen Namen «Der
Weg zur Zukunft», der sich in diesem Fall von der ersten bis zur
zehnten Klasse erstreckt. 70 Prozent ihrer Kinder hätten ein oder
beide Elternteile im Krieg verloren, sagt die 30 Jahre alte
Direktorin, die wie ihre Kollegen aus Syrien geflohen ist. Ihre
Einrichtung bekomme – anders als andere syrische Schulen – kein Geld
von der türkischen Regierung, sondern finanziere sich durch Spenden.

Flüchtlingsschulen wie ihre hätten mit einer Vielzahl an Problemen zu
kämpfen, sagt Al-Hadsch. Armut der Eltern nennt sie dabei an erster
Stelle. Viele Schüler hätten außerdem psychologische Probleme. «Wir
haben Kinder, die wurden unter Trümmern nach Bombardements gefunden,
bei denen die Eltern getötet wurden.» Die Gewalterfahrungen
übertrügen manche Kinder in den Schulalltag. «Es wird viel gekämpft.»

Der 13-jährigen Rowan hat der Krieg beide Eltern und eine Schwester
geraubt. Anders als die meisten Syrer träumt das Mädchen nicht davon,
in die Heimat zurückzukehren – in ihrem Fall ist das die zerstörte
Stadt Homs. «Ich mag mein Haus nicht mehr, weil da nichts mehr drin
ist, was ich liebe», sagt Rowan. «Diejenigen, die ich liebe, habe ich
verloren.» Rowan ist in einem Heim für syrische Waisen und Halbwaisen
untergekommen, das den hoffnungsvollen Namen «Frieden» trägt.

Dort lebt auch Roghad, deren Vater im Kampf gegen das Regime
von Baschar al-Assad gestorben ist. Ihr Ziel ist es, eines Tages
Rechtsanwältin zu werden. «Ich will die Rechte der Menschen
verteidigen. Weil Assad uns unterdrückt hat. Wir sind im Recht, und
trotzdem sind wir jetzt Opfer.» Solche Sätze sagt eine Zehnjährige.

Der Krieg hat auch das Leben von Abdulkadir durcheinandergebracht.
Der Fünfjährige geht in den Kindergarten «Große Umarmungen». Sehr gut
erinnere er sich noch an das Haus seiner Familie, sagt er. «Es ist
abgebrannt.» Sein Vater habe ihm gesagt, dass die Familie in zwei
Jahren zurückkehren werde nach Aleppo. Die Erzieherinnen schweigen
betreten. Niemand weiß, wann der Krieg enden wird.

Auch Mohammed Nadschib ist fünf Jahre alt. «Fünfeinhalb», präzisiert
er. «Fast sechs.» Sein Vater ist nach Deutschland geflohen. Jetzt
hoffen er und die Mutter darauf, nachkommen zu können. «Ich bin froh,
weil ich dann meinen Vater wiedersehe», sagt der Junge. Wie zur
Erklärung fügt er hinzu: «In Deutschland gibt es Hasen. Schwarze,
braune und gelbe Hasen.» Den empörten Einwand eines anderen Mädchens,
es gebe keine gelben Hasen, will er nicht gelten lassen.

Für die in der Türkei zurückbleibenden Syrer bringt die Flucht vieler
ihrer Landsleute nach Europa neue Probleme mit sich. Vier Lehrer –
die in der Schule weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdienen
– seien inzwischen in Deutschland, sagt Al-Hadsch. Darunter seien die
beiden Kunstlehrer, die die Bemalung der Schulmauer initiiert haben.
«Jetzt haben wir keinen Kunstlehrer mehr.»

Über den Flüchtlingspakt der EU mit der Türkei weiß Al-Hadsch
Bescheid – wie alle Syrer in Gaziantep. Sie findet das Abkommen
bedauerlich. «Die Menschen haben alles verkauft, um nach Europa zu
gelangen», sagt sie. «Was sollen sie in der Türkei machen, wenn sie
zurückgeschickt werden?» Die Direktorin muss nicht lange nachdenken,
was sie sich wünschen würde, hätte sie einen Wunsch bei Kanzlerin
Merkel frei. «Dass sie den Krieg beendet», sagt Al-Hadsch. «Und dass
sie uns ermöglicht, in unser Land zurückzukehren.»

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