Vor 15 Jahren lösten miserable Testergebnisse deutscher 15-Jähriger
in Kernfächern den «PISA-Schock» über Mängel unseres Bildungssystems
aus. Für PISA-Forscher Schleicher sind die Reformen löblich – doch
einige wichtige Hausaufgaben wurden bisher noch nicht gemacht.
Berlin/Paris (dpa) – Deutschlands Bildungssystem hat aus dem
PISA-Debakel vor 15 Jahren gelernt – und das ist auch gut so. Diese
Ansicht vertritt seit Jahren Andreas Schleicher, der Koordinator für
das «Programm for International Student Assessment» (PISA) in Paris.
Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur in Berlin warnt der
OECD-Direktor davor, mit dem Reformeifer nachzulassen – Bremsspuren
gebe es leider schon. Am 6. Dezember präsentiert Schleicher die
Ergebnisse der sechsten PISA-Studie.
Frage: Wie stellt sich das Bildungssystem in Deutschland derzeit für
Sie dar? Gibt es womöglich zu viele Reformen, wie manche befürchten?
Antwort: In den ersten Jahren nach dem PISA-Schock ist unglaublich
viel in Bewegung gekommen in Deutschland. Die Reformen haben sich in
den ersten Jahren danach deutlich ausgezahlt. Es ist also sicher
nicht so, dass es hier zu viele Reformen gegeben hat. Vielleicht gab
es manchmal einen Mangel an strategischer Ausrichtung. Insgesamt hat
diese Dynamik das Land wirklich nach vorn gebracht. Man muss aber
leider sagen, dass der Schwung in den vergangenen Jahren wieder
abgeflaut ist – und das ist langfristig sehr schade.
Frage: Wo sehen Sie Defizite?
Antwort: Die verbesserten Leistungen Deutschlands bei den PISA-Tests
der Nuller-Jahre sollten Ansporn sein, so weiterzumachen. Es gibt
keinen Grund, warum Deutschland sich nicht an den leistungsstärksten
europäischen Bildungssystemen orientieren sollte. Aber dafür bleibt
noch viel zu tun, gerade auch bei der Chancengerechtigkeit.
Frage: Bei diesem heiklen Thema ist Deutschland also noch nicht weit
genug?
Antwort: Ich beziehe mich auf die PISA-Studien der vergangenen Jahre:
Demnach ist hierzulande weiterhin der Bildungserfolg zu stark vom
sozialen Kontext abhängig. Die Gruppe der leistungsschwachen Schüler
ist für ein Land wie Deutschland immer noch zu groß. Man muss aber
sehen, dass kein Bildungssystem langfristig erfolgreich sein kann,
ohne Chancengerechtigkeit sicherzustellen. Wie wir mit den
schwierigsten Schülern, den Schülern mit den schlechtesten
Ausgangsbedingungen umgehen – das sagt etwas über uns selbst aus. Es
geht dabei nicht nur um die Frage, ob diese Jugendlichen später alle
einen Beruf finden.
Frage: Sie vertreten seit langem die Ansicht, dass die besten Lehrer
in die schwierigsten Klassen gehören. Sind deutsche Lehrer da
womöglich zu bequem, nicht stressbereit genug?
Antwort: Dem einzelnen Lehrer in Deutschland kann man das sicher
nicht anlasten. Es geht darum, wie ein Bildungssystem mit seinen
Ressourcen umgeht, wie es diese Ressourcen dort zur Verfügung stellt,
wo sie am meisten gebraucht werden. Es muss bessere Perspektiven für
Lehrer geben, die Herausforderungen annehmen. Das ist so in Asien, wo
kein Karriereweg nach oben führen kann, wenn sich ein Lehrer nicht
auch um die schwierigsten Klassen und Schulen bemüht. Da ist das
Zusammenspiel zwischen Herausforderungen und Ressourcen zumindest im
Ansatz berücksichtigt. Man sollte in Deutschland also nicht sagen:
Die Lehrer müssen sich selbst darum kümmern.
Frage: Gibt es dieses Manko auch in anderen europäischen Ländern?
Antwort: Absolut. Frankreich steht da vor noch deutlich größeren
Herausforderungen. Diese ergeben sich zum Teil aus der Vergangenheit.
Wenn Sie mal hundert Jahre zurückgehen: Damals hatten wir wenig
Ressourcen für Bildung, brauchten aber auch nur wenige gut
ausgebildete Menschen in der Gesellschaft. Da war es effizient,
diejenigen zu fördern, bei denen es am leichtesten war. Heute leben
wir aber in einer Zeit, wo wir alle Menschen brauchen. Es gibt auch
immer weniger Raum für Menschen ohne gute Bildung, sich einzubringen.
Daher ist der Ansatz der Inklusion aller kein Luxus, sondern pure
Notwendigkeit geworden – und eine Kernaufgabe von Bildungspolitik.
Frage: Apropos Eingliederung: Wo steht Deutschland nach Ihrem
Eindruck bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise im Bildungsbereich?
Antwort: Zunächst einmal: Der Ansatz, den Deutschland gewählt hat für
die Integration von Flüchtlingen in sein Bildungssystem, wird in
aller Welt bewundert. Das ist eine Herausforderung unbekannten
Ausmaßes. Dass dabei nicht alles ideal gelaufen ist, weiß jeder. Dass
zum Beispiel reine Integrations- oder Willkommensklassen keine
Ideallösung sind, ist ebenfalls bekannt. Das sind halt Lösungen, die
aus der Not geboren wurden. Aber insgesamt ist Deutschland auf dem
richtigen Weg, auch wenn man langfristig noch viel mehr machen muss.
Frage: Es gibt Befürchtungen, durch diese Herausforderung könne es
bei PISA für Deutschland bald wieder bergab gehen. Zu Recht?
Antwort: Dass sich der Flüchtlings-Effekt auf die PISA-Resultate
auswirkt, ist statistisch gar nicht möglich. Da ist der Anteil von
Geflüchteten viel zu klein, um für ein Land wie Deutschland
signifikante Veränderungen im Gesamtergebnis zu bewirken. Was mir
auch nicht passt bei solchen Befürchtungen, ist die Annahme: Alle
Flüchtlinge können nichts. Wenn man unter vergleichbarem sozialen
Kontext nachschaut, finden wir unter Flüchtlingen genauso viele
Hochbegabte wie bei Schülern ohne Migrationshintergrund. Das sollte
man berücksichtigen.
Frage: Mit Blick auf den 6. Dezember: Muss sich Deutschland auf einen
neuen «PISA-Schock» wie 2001 vorbereiten?
Antwort: Ich darf dazu jetzt noch nichts sagen. Nur soviel: Hinter
PISA steckt keine Magie. PISA spiegelt wider, was im Klassenzimmer
passiert und was ein Bildungssystem tut. Die Länder, die viel getan
haben, sehen verbesserte Leistungen – und die Länder, wo wenig
passiert, die sehen auch wenig Gutes.
Zur Person: Andreas Schleicher (52), ein in Hamburg geborener
Bildungsforscher bei der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris, ist für viele «der
PISA-Papst». Als Internationaler Koordinator leitet er das Programme
for International Student Assessment (PISA). Nach vielen kritischen
Äußerungen über das deutsche Bildungssystem hat er in den vergangenen
Jahren Reformbemühungen gelobt, warnt jedoch davor, nun nachzulassen.