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Mein kleiner hipper Kaktus: Warum Cafés überall gleich aussehen

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Kreidetafeln, Vintage-Möbel und Burger: Es gibt zurzeit einen
Einheitslook in Cafés. Warum eigentlich?

Berlin (dpa) – Kakteen sind wie der Vollbart bei Männern: Auf einmal
waren sie total in. Ein Indiz: die Kaktus-Vasen im «Halleschen Haus»
in Berlin. Das ehemalige Postamt ist eine Mischung aus Café und Laden
für Design, Mode und Alltagsbedarf. Wie gemacht für Instagram-Bilder.
Das Haus landete schnell in Blogs und Reiseführern. Es gibt
Emaille-Tassen und Retro-Glühbirnen zu kaufen, das Café hat alten
Industriecharme und lange Holztische.

Das «Hallesche Haus» könnte auch in New York, London oder Stockholm
stehen. Jillian May (33), eine der Gründerinnen, weiß das. Und auch,
dass man schnell in der Hipster-Ecke landen kann. «Wir sind uns
darüber bewusst und versuchen, unseren individuellen Geschmack zu
verfolgen», sagt die Amerikanerin. Deswegen hängt beispielsweise an
der Decke eine moderne Designerlampe.

Ansonsten gilt: Zu schönen Retro-Glühbirnen kann man gerade nicht
Nein sagen. Wenn in ferner Zukunft ein Film in einem Großstadtcafé im
Jahr 2016 spielt – die Kulisse ist einfach. Die Welt dort sieht
ziemlich gleich aus. Besonders gut lässt sich das Trendgeschehen in
Berlin-Kreuzberg und Berlin-Neukölln beobachten.

Nachdem der Osten Berlins erst abgerockt und cool, dann durchsaniert
war, hungerte die Szene nach neuen Orten im Westen. Jetzt gibt es sie
fast im Überfluss. Zum modernen Großstadtmenschen gehört, sich
darüber zu beschweren. «Nie wieder Hipstah», steht auf einer Berliner
Hauswand.

Eine Stunde Spaziergang: überall Kreidetafeln, Trödel- und
Vintage-Möbel, Holztische, Backsteinwände, nackte Glühbirnen, schwere
Industrieleuchten und frische Schnittblumen in der Vase.

Getrunken wird der Cocktail Moscow Mule. Bloß kein Caipirinha – das
ist Fußball-WM 2006. Gegessen wird vegan, Burger oder Pulled Pork,
vulgo: Schweinebraten. Die Kellnerin trägt hochgeschnittene
«Mom-Jeans» und spricht, so ihr Arbeitsplatz Neukölln ist, lieber
Englisch als Deutsch.

Früher war Latte macchiato ein Indiz für Makler und Journalisten,
eine Gegend zum «Szeneviertel» zu küren. Heute sollte man alarmiert
sein, wenn das Müsli auf den Speisekarten «Granola» genannt wird:
Dann könnte es bald teuer werden.

Die Globalisierung hat längst den Tresen erreicht. Craft Beer aus
kleinen Brauereien, ein Trend aus den USA, gibt es fast überall.
Spätzle werden zu «German Comfort Food», das klingt besser als
deutsche Hausmannkost. Man muss nicht mehr nach Tel Aviv reisen, um
zum Frühstück das Eiergericht Shakshuka zu bekommen. Es wird auch in
einem Neuköllner Plattenladen serviert – von israelischen DJs.

Eine Formel lautet: aus Alt wird Neu wird Hip. Der Szenegastronom ist
nicht nur in Berlin immer auf der Suche nach einem vermeintlich
uncoolen Oma-Gemüse, das er neu interpretiert. Blumenkohl, Sellerie,
Liebstöckel. Grünkohl hat über den Umweg aus den USA eine späte
Karriere hingelegt. Er tarnt sich unter seinem englischen Namen
«Kale». 70er-Jahre-Hobbys wie Töpfern und Makramé werden neu
entdeckt. In Cafés hängen Blumenampeln. So reiseführertauglich die
Orte sind, geballt kann man das alles etwas anstrengend finden.

Trends breiten sich immer schneller und immer umfassender aus, so
erklärt es Sven Ehmann (42), Kreativdirektor beim Gestalten Verlag.
«Damit sind sie auch kaum noch den vermeintlichen Trend-Metropolen
vorbehalten, sondern finden ihren Weg ziemlich direkt in den
Mainstream oder die Provinz, was letztendlich ja auch ganz
demokratisch ist.»

Gibt es Dinge, die Ehmann nicht mehr sehen kann? «Absolut. Fahrräder,
die an den Wänden von Coffeeshops hängen, zum Beispiel. Das hab ich
in Europa, Afrika, Asien und Amerika gesehen – und nie verstanden.»

Die Bezugspunkte der Macher seien weltweit die gleichen –
Internetquellen wie Pinterest und Instagram. «Das führt dazu, dass
wir heute wirklich in einem Global Village leben und in der ganzen
Welt auf sehr ähnliche Strukturen treffen», sagt Ehmann. «Man könnte
auch sagen, das ist langweilig. Und es ist sehr absehbar, dass das
unverwechselbar Lokale entsprechend an Bedeutung gewinnt.»

Durch die Internetkanäle hat sich eine gewisse Ästhetik entwickelt,
sagt auch Milena Zwerenz (26) vom Stadtmagazin «Mit Vergnügen».
«Essen muss nicht mehr nur schmecken, sondern auch gut aussehen und
am besten auch noch toll zu fotografieren sein. Gleiches gilt für die
Location.» Wovon sie genug hat? Zwerenz: «Freischwebende Glühbirnen,
Beton, freigelegte Wände, Speisekarten auf Klemmbrettern.»

Es herrscht also eine gewisse Trendmüdigkeit. Passend dazu hat das
Stadtmagazin «Tip» gerade die «30 ehrlichsten Kneipen» in Berlin
empfohlen. Dort gibt es garantiert kein W-Lan, keine Retro-Glühbirnen
oder Kellnerinnen in Mom-Jeans. Höchstens aus Zufall.

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