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Außer Rand und Band – ab wann ist ein Kind «unbeschulbar»? Von Kristin Kruthaup, dpa

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Nach der Gewalttat von Lünen wird klar: Der mutmaßliche Täter war der
Polizei bekannt, der 15-Jährige galt als aggressiv und auch als
«unbeschulbar». Doch ab wann ist ein Jugendlicher eigentlich
«unbeschulbar»? Und wie oft kommt das vor?

Münster (dpa) – Sie stören massiv den Unterricht oder bedrohen andere
Kinder, auch Lehrer sind da oft machtlos: Immer wieder gibt es
Schüler, die in der regulären Schule einfach nicht zurechtkommen. Der
Junge oder das Mädchen sei «unbeschulbar» oder «nicht beschulbar»,
heißt es dann. So war es auch bei dem mutmaßlichen Messerstecher in
Lünen bei Dortmund. Nach dem tödlichen Angriff auf einen 14-Jährigen
in einer Gesamtschule teilten Polizei und Staatsanwaltschaft in
dieser Woche mit: «Nach Einschätzung der Sozialarbeiterin gilt der
15-Jährige als aggressiv und unbeschulbar.» Unklar ist aber nach wie
vor, wann ein Kind eigentlich «unbeschulbar» ist.

Rein rechtlich ist die Sache erst einmal klar: «Juristisch gibt es
die Kategorie unbeschulbar nicht», sagt ein Sprecher des
nordrhein-westfälischen Schulministeriums. Denn es gilt die
Schulpflicht: Laut Schulgesetz hat jeder Jugendliche ein Recht auf
schulische Bildung – und auch eine Schulpflicht. Doch was, wenn
Kinder sich einfach nicht in der Schule integrieren?

Fallen Jugendliche immer wieder negativ auf, greifen zunächst die
«erzieherischen Maßnahmen». Diese Maßnahmen zählt zum Beispiel
Nordrhein-Westfalens Schulgesetz in Paragraf 53 auf. Die Lehrer
ermahnen Schüler, sie bestellen die Eltern zum Gespräch ein, es gibt
Gruppengespräche mit Schülern und Eltern, der Schüler wird einer
Unterrichtsstunde verwiesen und es werden Förderpläne aufgestellt.

Erst wenn das nichts bringt, dürfen die «Ordnungsmaßnahmen»
eingesetzt werden. Auch hier gibt es wieder Eskalationsstufen: Es
beginnt mit einem schriftlichen Verweis und der Versetzung des
Schülers in eine Parallelklasse, und es reicht bis zur Entlassung aus
der Schule oder im schlimmsten Fall dem Verweis von allen
öffentlichen Schulen des Landes.

«Der Schulverweis ist für das Kind natürlich eine dramatische
Maßnahme», sagt Carolin Ischinsky. Sie ist Schulamtsdirektorin in
Münster und zuständig für die Förderschulen. Soll ein Kind in ihrem
Bereich der Schule verwiesen werden, muss sie zustimmen. Zu einem
Schulverweis kommt es, wenn ein «wiederholtes und schwerwiegendes»
Fehlverhalten vorliegt. Außerdem werde die Vorgeschichte des Kindes
berücksichtigt, das Ganze muss zudem verhältnismäßig sein. Eltern
können gegen so eine Entscheidung klagen.

Schulverweise sind gar nicht so selten. Zwei Beispiele aus der
Statistik: Im Regierungsbezirk Köln – dort leben etwa 4,3 Millionen
Einwohner – wurden im Schuljahr 2016/2017 534 Schüler von einer
weiterführenden Schule entlassen. Im Regierungsbezirk Arnsberg (3,6
Millionen Einwohner) waren es 237.

Wird ein Jugendlicher der Schule verwiesen, muss eine neue Schule für
ihn gefunden werden. Hier helfe dann die Schulaufsicht, sagt
Ischinsky. Dass ein Jugendlicher in letzter Zeit aller öffentlichen
Schulen in NRW verwiesen wurde, die drastischste Ordnungsmaßnahme,
war zumindest nicht bekannt.

Funktioniere der Regelschulunterricht einfach nicht, gebe es dann
häufig auch den Versuch, die Kinder aus der Regelschule
herauszunehmen. In Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe werde dann
versucht, sie im Einzelunterricht oder in ganz kleinen Gruppen wieder
fit für die Regelschule zu machen, erläutert Dorothea Schäfer, die
Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft NRW.

Aber nimmt die Zahl solcher Schüler in NRW zu? Der Vorsitzende des
Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann, hat zumindest
den Eindruck: «Schon länger weisen wir darauf hin, dass Konflikte
schneller und öfter eskalieren und mit derberen Mitteln ausgetragen
werden», teilte er am Mittwoch mit. Er fordert deshalb: Die Politik
müsse die Gewalttat von Lünen zum Anlass nehmen, das Ausmaß an
Verrohung und Gewalt in der Gesellschaft ernstzunehmen und zu
handeln.

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